Erlasse der Bundesversammlung. Wahrung der Einheit der Materie

ShortId
18.436
Id
20180436
Updated
10.04.2024 19:20
Language
de
Title
Erlasse der Bundesversammlung. Wahrung der Einheit der Materie
AdditionalIndexing
421;04;12
1
PriorityCouncil1
Ständerat
Texts
  • <p>Der Grundsatz der Einheit der Materie verlangt, dass zwei oder mehrere Sachfragen und Materien nicht miteinander zu einer einzigen Abstimmungsvorlage verbunden werden, die die Stimmberechtigten in eine Zwangslage versetzen und ihnen keine freie Wahl zwischen den einzelnen Teilen belassen. Wird der Grundsatz missachtet, können die Stimmbürger ihre Auffassung nicht ihrem Willen gemäss zum Ausdruck bringen: Entweder müssen sie der Gesamtvorlage zustimmen, obschon sie einen oder gewisse Teile missbilligen, oder sie müssen die Vorlage ablehnen, obwohl sie den andern oder andere Teile befürworten. Schutzobjekt des Grundsatzes sind also die Stimmberechtigten, die ihren Willen frei bilden und ihre Stimmabgabe unverfälscht zum Ausdruck bringen können sollen.</p><p>Auf Bundesebene wird die Einheit der Materie explizit nur für Verfassungsnovellen verlangt: Der Grundsatz ist eines der Gültigkeitserfordernisse für Volksinitiativen (Art. 139 Abs. 3 der Bundesverfassung) und gilt überdies allgemein für jegliche Teilrevisionen der Bundesverfassung, also für das obligatorische Verfassungsreferendum (Art. 194 Abs. 2 der Bundesverfassung). Der Grundsatz wird sodann (jedoch nur Volksinitiativen betreffend) in Artikel 75 Absatz 2 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte konkretisiert: "Die Einheit der Materie ist gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen einer Initiative ein sachlicher Zusammenhang besteht."</p><p>Müssen aber auch Bundesgesetze respektive die Bundesversammlung beim Erlass ebendieser die Einheit der Materie beachten?</p><p>Die Lehre plädiert ziemlich einhellig dafür, dass die Einheit der Materie sowohl bei Volksinitiativen als auch bei Behördenvorlagen gewahrt werden soll (Andreas Auer, Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Bern 2016, Rz. 1149; Gerold Steinmann, Artikel 34, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung: St. Galler Kommentar, 3. A., Zürich 2014, Rz. 23; Crispin Hugenschmidt, Einheit der Materie - überholtes Kriterium zum Schutze des Stimmrechts?, Diss. Basel 2001, S. 93ff.; Bénédicte Tornay Schaller, La démocratie directe saisie par le juge, Diss. Genève 2008, S. 210; Christoph Albrecht, Gegenvorschläge zu Volksinitiativen - Zulässigkeit, Inhalt, Verfahren, Diss. St. Gallen 2003, S. 175f.; Andrea Töndury, Toleranz als Grundlage politischer Chancengleichheit, Habil. Zürich/St. Gallen 2017, S. 625). Schliesslich sei es unerheblich, wer der Urheber einer Abstimmungsvorlage ist: Die Garantie der politischen Rechte (Art. 34 der Bundesverfassung) schütze die Stimmberechtigten bei jeglichen Abstimmungsvorlagen und erlaube ihnen dabei die freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe.</p><p>Ob dies die Bundesversammlung selber auch so sieht, ist unklar. Zumindest gibt es Stimmen, welche den Grundsatz für Bundesgesetze als nicht anwendbar erkennen. Auch die WAK-S hat kürzlich das Bundesamt für Justiz um eine Stellungnahme gebeten zur Frage, ob der Grundsatz der Einheit der Materie bei Bundesgesetzen überhaupt gilt (siehe Stellungnahme vom 31. Mai 2018 des Bundesamtes für Justiz an die WAK-S betreffend Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung).</p><p>Sodann scheinen sich in der letzten Zeit Vorlagen zu häufen, welche sehr unterschiedliche Materien in eine einzige Vorlage verpacken. Erwähnt sei das hängige Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung (18.031) oder auch die Aktienrechtsrevision (16.077), welche gleichzeitig nicht nur die Volksinitiative "gegen die Abzockerei" umsetzen und eine Geschlechterquote einführen, sondern neuerdings gar noch als indirekter Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungs-Initiative fungieren soll. Gemäss Andreas Auer habe bereits die letzte (gescheiterte) "Altersvorsorge 2020" die Einheit verletzt (Die Reform der Altersvorsorge 2020 und der Grundsatz der Einheit der Materie, <a href="https://napoleonsnightmare.ch/2017/09/15/die-reform-der-altersvorsorge-2020-und-der-grundsatz-der-einheit-der-materie">https://napoleonsnightmare.ch/2017/09/15/die-reform-der-altersvorsorge-2020-und-der-grundsatz-der-einheit-der-materie</a>).</p><p>Um fortan Klarheit zu schaffen und die materielle Einheit der Bundeserlasse einheitlich zu handhaben, sei dieser Grundsatz ins Parlamentsgesetz aufzunehmen.</p>
  • <p>Das Bundesgesetz über die Bundesversammlung ist wie folgt zu ergänzen:</p><p>Art. 22</p><p>...</p><p>Abs. 5</p><p>Erlasse, die dem Referendum unterstehen, müssen die Einheit der Materie wahren. Sie ist gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen eines Erlasses ein sachlicher Zusammenhang besteht.</p>
  • Erlasse der Bundesversammlung. Wahrung der Einheit der Materie
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>Der Grundsatz der Einheit der Materie verlangt, dass zwei oder mehrere Sachfragen und Materien nicht miteinander zu einer einzigen Abstimmungsvorlage verbunden werden, die die Stimmberechtigten in eine Zwangslage versetzen und ihnen keine freie Wahl zwischen den einzelnen Teilen belassen. Wird der Grundsatz missachtet, können die Stimmbürger ihre Auffassung nicht ihrem Willen gemäss zum Ausdruck bringen: Entweder müssen sie der Gesamtvorlage zustimmen, obschon sie einen oder gewisse Teile missbilligen, oder sie müssen die Vorlage ablehnen, obwohl sie den andern oder andere Teile befürworten. Schutzobjekt des Grundsatzes sind also die Stimmberechtigten, die ihren Willen frei bilden und ihre Stimmabgabe unverfälscht zum Ausdruck bringen können sollen.</p><p>Auf Bundesebene wird die Einheit der Materie explizit nur für Verfassungsnovellen verlangt: Der Grundsatz ist eines der Gültigkeitserfordernisse für Volksinitiativen (Art. 139 Abs. 3 der Bundesverfassung) und gilt überdies allgemein für jegliche Teilrevisionen der Bundesverfassung, also für das obligatorische Verfassungsreferendum (Art. 194 Abs. 2 der Bundesverfassung). Der Grundsatz wird sodann (jedoch nur Volksinitiativen betreffend) in Artikel 75 Absatz 2 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte konkretisiert: "Die Einheit der Materie ist gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen einer Initiative ein sachlicher Zusammenhang besteht."</p><p>Müssen aber auch Bundesgesetze respektive die Bundesversammlung beim Erlass ebendieser die Einheit der Materie beachten?</p><p>Die Lehre plädiert ziemlich einhellig dafür, dass die Einheit der Materie sowohl bei Volksinitiativen als auch bei Behördenvorlagen gewahrt werden soll (Andreas Auer, Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Bern 2016, Rz. 1149; Gerold Steinmann, Artikel 34, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung: St. Galler Kommentar, 3. A., Zürich 2014, Rz. 23; Crispin Hugenschmidt, Einheit der Materie - überholtes Kriterium zum Schutze des Stimmrechts?, Diss. Basel 2001, S. 93ff.; Bénédicte Tornay Schaller, La démocratie directe saisie par le juge, Diss. Genève 2008, S. 210; Christoph Albrecht, Gegenvorschläge zu Volksinitiativen - Zulässigkeit, Inhalt, Verfahren, Diss. St. Gallen 2003, S. 175f.; Andrea Töndury, Toleranz als Grundlage politischer Chancengleichheit, Habil. Zürich/St. Gallen 2017, S. 625). Schliesslich sei es unerheblich, wer der Urheber einer Abstimmungsvorlage ist: Die Garantie der politischen Rechte (Art. 34 der Bundesverfassung) schütze die Stimmberechtigten bei jeglichen Abstimmungsvorlagen und erlaube ihnen dabei die freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe.</p><p>Ob dies die Bundesversammlung selber auch so sieht, ist unklar. Zumindest gibt es Stimmen, welche den Grundsatz für Bundesgesetze als nicht anwendbar erkennen. Auch die WAK-S hat kürzlich das Bundesamt für Justiz um eine Stellungnahme gebeten zur Frage, ob der Grundsatz der Einheit der Materie bei Bundesgesetzen überhaupt gilt (siehe Stellungnahme vom 31. Mai 2018 des Bundesamtes für Justiz an die WAK-S betreffend Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung).</p><p>Sodann scheinen sich in der letzten Zeit Vorlagen zu häufen, welche sehr unterschiedliche Materien in eine einzige Vorlage verpacken. Erwähnt sei das hängige Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung (18.031) oder auch die Aktienrechtsrevision (16.077), welche gleichzeitig nicht nur die Volksinitiative "gegen die Abzockerei" umsetzen und eine Geschlechterquote einführen, sondern neuerdings gar noch als indirekter Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungs-Initiative fungieren soll. Gemäss Andreas Auer habe bereits die letzte (gescheiterte) "Altersvorsorge 2020" die Einheit verletzt (Die Reform der Altersvorsorge 2020 und der Grundsatz der Einheit der Materie, <a href="https://napoleonsnightmare.ch/2017/09/15/die-reform-der-altersvorsorge-2020-und-der-grundsatz-der-einheit-der-materie">https://napoleonsnightmare.ch/2017/09/15/die-reform-der-altersvorsorge-2020-und-der-grundsatz-der-einheit-der-materie</a>).</p><p>Um fortan Klarheit zu schaffen und die materielle Einheit der Bundeserlasse einheitlich zu handhaben, sei dieser Grundsatz ins Parlamentsgesetz aufzunehmen.</p>
    • <p>Das Bundesgesetz über die Bundesversammlung ist wie folgt zu ergänzen:</p><p>Art. 22</p><p>...</p><p>Abs. 5</p><p>Erlasse, die dem Referendum unterstehen, müssen die Einheit der Materie wahren. Sie ist gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen eines Erlasses ein sachlicher Zusammenhang besteht.</p>
    • Erlasse der Bundesversammlung. Wahrung der Einheit der Materie

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