Soll bei gescheiterten Eingliederungsmassnahmen wirklich erst nach deren Ende eine IV-Rente fliessen können?

ShortId
23.3708
Id
20233708
Updated
26.03.2024 21:51
Language
de
Title
Soll bei gescheiterten Eingliederungsmassnahmen wirklich erst nach deren Ende eine IV-Rente fliessen können?
AdditionalIndexing
2836
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>1. Die erwähnten Urteile sind dem Bundesrat bekannt. Es entspricht der gängigen Praxis, wichtige und umsetzungsrelevante Bundesgerichtsentscheide in die massgebenden Weisungen an die IV-Stellen aufzunehmen.</p><p>&nbsp;</p><p>2. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die gesetzliche Regelung des Grundsatzes «Eingliederung vor Rente» und die dazu ergangene, in der Praxis anerkannte, Rechtsprechung grundsätzlich sachgerecht ist. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass in diesem Zeitraum andere Versicherungsleistungen ausgerichtet werden. So können Taggeldleistungen der Unfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung ausbezahlt werden. Gemäss Artikel 70 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) gehen sie den Leistungen der IV vor. Aus Sicht des Bundesrates ist zentral, dass die Verfahren möglichst kurz dauern, soweit es die IV-Stellen beeinflussen können. Weiter hat der Bundesrat im Rahmen der Weiterentwicklung der IV (17.022) diverse Massnahmen im Hinblick auf ein einfaches und rasches Sozialversicherungsverfahren eingeführt, um unter anderem die Verfahrensdauer zu kürzen. So wurde die Koordination im Rahmen der Fallführung verbessert und das Amtsermittlungsverfahren im Hinblick auf schnellere Abklärungen hinsichtlich der medizinischen Begutachtung gestärkt. Nach Möglichkeit ist die Rentenabklärung parallel zu Eingliederungsmassnahmen vorzunehmen, so dass nach Abschluss der Eingliederung die Zeit bis zum Rentenentscheid möglichst kurzgehalten werden kann. Sofern die Anmeldung bei der IV rechtzeitig erfolgt, das heisst innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt des Gesundheitsschadens, reichen die von den Krankentaggeldversicherungen gewährten 720 Taggelder in der Regel aus, um allfällige Lücken zwischen einer Rente, einer neuen Anstellung oder einem Übertritt in die Sozialhilfe finanziell zu überbrücken. Stossende Fälle sind aufgrund der Komplexität der Fälle jedoch nach wie vor möglich.&nbsp;</p><p>&nbsp;</p><p>3. Wartezeittaggelder gemäss Artikel 18 und 19 der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sind vorgesehen vor Beginn einer Umschulung und unter gewissen Umständen (insb. bei einer vorgängigen Erwerbsarbeit) während der Stellensuche, sofern keine andere Versicherung taggeldpflichtig ist. Es ist nicht Aufgabe der IV, während dem IV-Abklärungsverfahren beziehungsweise der Prüfung des Rentenanspruchs und in der Phase zwischen zwei Eingliederungsmassnahmen die finanzielle Absicherung der versicherten Person sicherzustellen. Die Deckung dieses Erwerbsaufalls aufgrund Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Unfall hat durch die dafür zuständigen Versicherungen und/oder Sozialhilfe zu erfolgen.&nbsp;Es ist somit nicht zielführend, ein allgemeines Wartezeittaggeld zwischen den Massnahmen einerseits und dem Abschluss der Eingliederung und dem Rentenentscheid andererseits einzuführen. Dies hätte weiter grosse Auswirkungen auf die Abgrenzung und Koordination zwischen den Versicherungen.</p>
  • <p>Zum Grundsatz "Eingliederung vor Rente" (Art. 28 Abs. 1 Bst. a IVG) hält das Bundesgericht in neueren Urteilen (9C_380/2021, 148 V 397) fest: Solange Eingliederungsmassnahmen - auch in der Form von Integrationsmassnahmen wie z.B. ein Aufbautraining - möglich sind, kann eine Rente nicht zugesprochen werden. Dies gilt selbst dann, wenn diese nur teilweise erfolgreich waren oder gar gescheitert sind. Das BSV hat diese Rechtsprechung im Juli 2022 in sein Kreisschreiben (KSIR, Rz. 2300) aufgenommen.</p><p>Die Praxis zeigt: Oft werden mehrmals und mit Unterbrüchen Eingliederungsmassnahmen durchgeführt. Sind sie nur teilweise erfolgreich oder gar gescheitert und besteht ein Rentenanspruch, hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung stossende Auswirkungen. So geschehen im Fall 9Q380/2021 vor Bundesgericht: Zwischen Beginn Arbeitsunfähigkeit und Beginn der ganzen IV-Rente liegen rund 4 Jahre. Eingliederungsmassnahmen mit IV-Taggeld wurden in dieser Zeitspanne aber nur während einem kleinen Bruchteil durchgeführt. Wer finanziert in solchen Fällen den Lebensunterhalt? Nach Ausschöpfung von Krankentaggeld und allfälliger Arbeitslosentaggelder bleibt oft nichts Anderes übrig, als sich stark zu verschulden oder bei der Sozialhilfe anzumelden.</p><p>Ich bitte den Bundesrat um Beantwortung folgender Fragen:</p><p>1. Hat der Bundesrat Kenntnis von der neusten und im Kreisschreiben über Invalidität und Rente in der IV (KSIR, Rz. 2300) aufgenommenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung?</p><p>2. Ist der Bundesrat ebenfalls der Ansicht, dass die neuste und im KSIR aufgenommene bundesgerichtliche Rechtsprechung in zahlreichen Fällen stossende Auswirkungen hat?</p><p>3. Ist der Bundesrat bereit, Lösungen zu entwickeln, wie solch stossende Auswirkungen vermieden werden können (z.B. durch ein Wartezeittaggeld für die Zeiten zwischen den einzelnen Eingliederungsmassnahmen, analog dem Wartezeittaggeld im Hinblick auf eine Umschulung gemäss Art. 18 IVV)?</p>
  • Soll bei gescheiterten Eingliederungsmassnahmen wirklich erst nach deren Ende eine IV-Rente fliessen können?
State
Stellungnahme zum Vorstoss liegt vor
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>1. Die erwähnten Urteile sind dem Bundesrat bekannt. Es entspricht der gängigen Praxis, wichtige und umsetzungsrelevante Bundesgerichtsentscheide in die massgebenden Weisungen an die IV-Stellen aufzunehmen.</p><p>&nbsp;</p><p>2. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die gesetzliche Regelung des Grundsatzes «Eingliederung vor Rente» und die dazu ergangene, in der Praxis anerkannte, Rechtsprechung grundsätzlich sachgerecht ist. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass in diesem Zeitraum andere Versicherungsleistungen ausgerichtet werden. So können Taggeldleistungen der Unfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung ausbezahlt werden. Gemäss Artikel 70 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) gehen sie den Leistungen der IV vor. Aus Sicht des Bundesrates ist zentral, dass die Verfahren möglichst kurz dauern, soweit es die IV-Stellen beeinflussen können. Weiter hat der Bundesrat im Rahmen der Weiterentwicklung der IV (17.022) diverse Massnahmen im Hinblick auf ein einfaches und rasches Sozialversicherungsverfahren eingeführt, um unter anderem die Verfahrensdauer zu kürzen. So wurde die Koordination im Rahmen der Fallführung verbessert und das Amtsermittlungsverfahren im Hinblick auf schnellere Abklärungen hinsichtlich der medizinischen Begutachtung gestärkt. Nach Möglichkeit ist die Rentenabklärung parallel zu Eingliederungsmassnahmen vorzunehmen, so dass nach Abschluss der Eingliederung die Zeit bis zum Rentenentscheid möglichst kurzgehalten werden kann. Sofern die Anmeldung bei der IV rechtzeitig erfolgt, das heisst innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt des Gesundheitsschadens, reichen die von den Krankentaggeldversicherungen gewährten 720 Taggelder in der Regel aus, um allfällige Lücken zwischen einer Rente, einer neuen Anstellung oder einem Übertritt in die Sozialhilfe finanziell zu überbrücken. Stossende Fälle sind aufgrund der Komplexität der Fälle jedoch nach wie vor möglich.&nbsp;</p><p>&nbsp;</p><p>3. Wartezeittaggelder gemäss Artikel 18 und 19 der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sind vorgesehen vor Beginn einer Umschulung und unter gewissen Umständen (insb. bei einer vorgängigen Erwerbsarbeit) während der Stellensuche, sofern keine andere Versicherung taggeldpflichtig ist. Es ist nicht Aufgabe der IV, während dem IV-Abklärungsverfahren beziehungsweise der Prüfung des Rentenanspruchs und in der Phase zwischen zwei Eingliederungsmassnahmen die finanzielle Absicherung der versicherten Person sicherzustellen. Die Deckung dieses Erwerbsaufalls aufgrund Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Unfall hat durch die dafür zuständigen Versicherungen und/oder Sozialhilfe zu erfolgen.&nbsp;Es ist somit nicht zielführend, ein allgemeines Wartezeittaggeld zwischen den Massnahmen einerseits und dem Abschluss der Eingliederung und dem Rentenentscheid andererseits einzuführen. Dies hätte weiter grosse Auswirkungen auf die Abgrenzung und Koordination zwischen den Versicherungen.</p>
    • <p>Zum Grundsatz "Eingliederung vor Rente" (Art. 28 Abs. 1 Bst. a IVG) hält das Bundesgericht in neueren Urteilen (9C_380/2021, 148 V 397) fest: Solange Eingliederungsmassnahmen - auch in der Form von Integrationsmassnahmen wie z.B. ein Aufbautraining - möglich sind, kann eine Rente nicht zugesprochen werden. Dies gilt selbst dann, wenn diese nur teilweise erfolgreich waren oder gar gescheitert sind. Das BSV hat diese Rechtsprechung im Juli 2022 in sein Kreisschreiben (KSIR, Rz. 2300) aufgenommen.</p><p>Die Praxis zeigt: Oft werden mehrmals und mit Unterbrüchen Eingliederungsmassnahmen durchgeführt. Sind sie nur teilweise erfolgreich oder gar gescheitert und besteht ein Rentenanspruch, hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung stossende Auswirkungen. So geschehen im Fall 9Q380/2021 vor Bundesgericht: Zwischen Beginn Arbeitsunfähigkeit und Beginn der ganzen IV-Rente liegen rund 4 Jahre. Eingliederungsmassnahmen mit IV-Taggeld wurden in dieser Zeitspanne aber nur während einem kleinen Bruchteil durchgeführt. Wer finanziert in solchen Fällen den Lebensunterhalt? Nach Ausschöpfung von Krankentaggeld und allfälliger Arbeitslosentaggelder bleibt oft nichts Anderes übrig, als sich stark zu verschulden oder bei der Sozialhilfe anzumelden.</p><p>Ich bitte den Bundesrat um Beantwortung folgender Fragen:</p><p>1. Hat der Bundesrat Kenntnis von der neusten und im Kreisschreiben über Invalidität und Rente in der IV (KSIR, Rz. 2300) aufgenommenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung?</p><p>2. Ist der Bundesrat ebenfalls der Ansicht, dass die neuste und im KSIR aufgenommene bundesgerichtliche Rechtsprechung in zahlreichen Fällen stossende Auswirkungen hat?</p><p>3. Ist der Bundesrat bereit, Lösungen zu entwickeln, wie solch stossende Auswirkungen vermieden werden können (z.B. durch ein Wartezeittaggeld für die Zeiten zwischen den einzelnen Eingliederungsmassnahmen, analog dem Wartezeittaggeld im Hinblick auf eine Umschulung gemäss Art. 18 IVV)?</p>
    • Soll bei gescheiterten Eingliederungsmassnahmen wirklich erst nach deren Ende eine IV-Rente fliessen können?

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