Ausländer- und Integrationsgesetz. Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber nicht für Bettlerinnen und Bettler

ShortId
23.3778
Id
20233778
Updated
26.03.2024 22:14
Language
de
Title
Ausländer- und Integrationsgesetz. Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber nicht für Bettlerinnen und Bettler
AdditionalIndexing
2811;28;1236
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>Im Januar 2021 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil gefällt (Fall Lacatus gegen die Schweiz Beschwerde Nr. 14065/15) und die Schweiz verurteilt, weil sie mit einem allgemeinen Bettelverbot Artikel&nbsp;8 der EMRK verletzt habe. Mehrere Kantone mussten infolge dieses Urteils ihre Vorschriften anpassen und anstelle eines allgemeinen Bettelverbots ein Rayonverbot erlassen.</p><p>Betteln ist derzeit ein Problem in unseren Städten und in vielen Regionen unseres Landes. Es sind zahlreiche Banden entstanden, die auf der Strasse in unseren Städten bei Einwohnerinnen und Einwohnern, Nutzerinnen und Nutzern sowie Touristinnen und Touristen auf übergriffige und aufsässige Art und Weise um Almosen betteln. Diese Situation darf nicht andauern, und es muss schnell eine Lösung gefunden werden. Der vorliegende Vorstoss fügt sich in einen föderalistischen Rahmen ein: Er überlässt es jedem Kanton und jeder Gemeinde, Gesetze zu erlassen, die es ihnen ermöglichen, das Betteln auf ihrem Gebiet generell zu verbieten. Er wird einen Beitrag leisten zur wirksamen Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Um die Menschenrechtskonvention einzuhalten, wird der Bundesrat beauftragt, die Gesetzgebung unter Einhaltung der völkerrechtlichen Vorschriften so zu ändern, dass Personen, die betteln, ausgewiesen werden können und ihr Aufenthalt in der Schweiz verboten ist.</p>
  • <p>Der Bundesrat ist sich bewusst, dass einige Städte seit einiger Zeit mit einer zunehmenden Anzahl bettelnder Personen konfrontiert sind und dies für sie eine Herausforderung darstellt. Im Gegensatz zu den Bettelverboten, die in einzelnen kantonalen Gesetzgebungen geregelt sind, gelten für den ausländerrechtlichen Aufenthalt die Bestimmungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG; SR 142.20) oder des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Europäischen Union (EU) und der Schweiz (FZA; SR 0.142.112.681).</p><p>&nbsp;</p><p>Das Bundesgericht hatte sich erst kürzlich mit der Frage zu befassen, inwiefern ein partielles Bettelverbot im Kanton Basel-Stadt gegen das FZA verstossen könnte (Urteil BGer 1C_537/2021 vom 13. März 2023). Im Rahmen dieses Urteils hielt das Bundesgericht fest, dass EU-Staatsangehörige die freizügigkeitsrechtlichen Einreisevoraussetzungen erfüllen müssen. Wenn daraus Freizügigkeitsrechte für den Aufenthaltsstatus abgeleitet werden, muss&nbsp;für die freizügigkeitsrechtliche Einreise ein Anwesenheitstatbestand des FZA vorliegen, der einen Aufenthalt mit Erwerbstätigkeit, einen erwerbslosen Aufenthalt oder einen Aufenthalt zwecks Dienstleistungsempfang umfasst. Aus diesem Urteil lässt sich schliessen, dass EU/EFTA-Staatsangehörige, die der Bettelei nachgehen, weder als Dienstleistungsempfängerinnen und ‑empfänger noch als Erwerbs‑ oder Nichterwerbstätige zu qualifizieren sind. Sie können daher kein Aufenthaltsrecht gestützt auf das FZA geltend machen.</p><p>&nbsp;</p><p>EU/EFTA-Staatsangehörige sowie Drittstaatsangehörige, die der Bettelei nachgehen, erfüllen in der Regel die Voraussetzungen für einen Aufenthalt nach dem AIG oder dem FZA nicht. Das Gleiche gilt grundsätzlich auch bei Personen, die bereits über eine Aufenthaltsbewilligung verfügen. Dabei ist jedoch im Einzelfall zu prüfen, ob die Voraussetzungen, unter welchen ihnen die Bewilligung gewährt wurde, nicht oder nicht mehr erfüllt sind. Die Kantone haben demnach bereits heute die Möglichkeit, Ausländerinnen und Ausländer wegzuweisen, wenn sich herausstellt, dass sie der Bettelei nachgehen (Artikel 64 AIG). Auch können bereits heute Einreiseverbote gegenüber weggewiesenen Ausländerinnen und Ausländer erlassen werden, wenn sie unter anderem nicht innerhalb der angesetzten Frist ausgereist sind (Artikel 67 Abs. 1 Bst. b AIG) oder sie gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen haben (Artikel 67 Abs. 1 Bst. c AIG). Eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist namentlich gegeben bei erheblichen oder wiederholten Verstössen gegen gesetzliche Vorschriften oder behördliche Verfügungen. Bei einem Einreiseverbot gegenüber EU/EFTA-Staatsangehörigen ist Artikel 5 Anhang I FZA zu berücksichtigen. Eine Einschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur zulässig, wenn eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt und diese Gefährdung ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.</p><p>&nbsp;</p><p>Es bestehen demnach bereits ausreichende rechtliche Grundlagen für die Anordnung von Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen gegenüber Ausländerinnen und Ausländern, die der Bettelei nachgehen. Eine Änderung des AIG ist daher nicht erforderlich.</p>
  • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) so zu ändern, dass unter Einhaltung des Völkerrechts ausländischen Personen, die in der Schweiz betteln, eine allfällige Aufenthaltsbewilligung entzogen wird, dass für diese Personen ein Rayonverbot verhängt wird und dass sie, wenn nötig, in ihr Herkunftsland zurückgeschafft werden können.</p>
  • Ausländer- und Integrationsgesetz. Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber nicht für Bettlerinnen und Bettler
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>Im Januar 2021 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil gefällt (Fall Lacatus gegen die Schweiz Beschwerde Nr. 14065/15) und die Schweiz verurteilt, weil sie mit einem allgemeinen Bettelverbot Artikel&nbsp;8 der EMRK verletzt habe. Mehrere Kantone mussten infolge dieses Urteils ihre Vorschriften anpassen und anstelle eines allgemeinen Bettelverbots ein Rayonverbot erlassen.</p><p>Betteln ist derzeit ein Problem in unseren Städten und in vielen Regionen unseres Landes. Es sind zahlreiche Banden entstanden, die auf der Strasse in unseren Städten bei Einwohnerinnen und Einwohnern, Nutzerinnen und Nutzern sowie Touristinnen und Touristen auf übergriffige und aufsässige Art und Weise um Almosen betteln. Diese Situation darf nicht andauern, und es muss schnell eine Lösung gefunden werden. Der vorliegende Vorstoss fügt sich in einen föderalistischen Rahmen ein: Er überlässt es jedem Kanton und jeder Gemeinde, Gesetze zu erlassen, die es ihnen ermöglichen, das Betteln auf ihrem Gebiet generell zu verbieten. Er wird einen Beitrag leisten zur wirksamen Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Um die Menschenrechtskonvention einzuhalten, wird der Bundesrat beauftragt, die Gesetzgebung unter Einhaltung der völkerrechtlichen Vorschriften so zu ändern, dass Personen, die betteln, ausgewiesen werden können und ihr Aufenthalt in der Schweiz verboten ist.</p>
    • <p>Der Bundesrat ist sich bewusst, dass einige Städte seit einiger Zeit mit einer zunehmenden Anzahl bettelnder Personen konfrontiert sind und dies für sie eine Herausforderung darstellt. Im Gegensatz zu den Bettelverboten, die in einzelnen kantonalen Gesetzgebungen geregelt sind, gelten für den ausländerrechtlichen Aufenthalt die Bestimmungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG; SR 142.20) oder des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Europäischen Union (EU) und der Schweiz (FZA; SR 0.142.112.681).</p><p>&nbsp;</p><p>Das Bundesgericht hatte sich erst kürzlich mit der Frage zu befassen, inwiefern ein partielles Bettelverbot im Kanton Basel-Stadt gegen das FZA verstossen könnte (Urteil BGer 1C_537/2021 vom 13. März 2023). Im Rahmen dieses Urteils hielt das Bundesgericht fest, dass EU-Staatsangehörige die freizügigkeitsrechtlichen Einreisevoraussetzungen erfüllen müssen. Wenn daraus Freizügigkeitsrechte für den Aufenthaltsstatus abgeleitet werden, muss&nbsp;für die freizügigkeitsrechtliche Einreise ein Anwesenheitstatbestand des FZA vorliegen, der einen Aufenthalt mit Erwerbstätigkeit, einen erwerbslosen Aufenthalt oder einen Aufenthalt zwecks Dienstleistungsempfang umfasst. Aus diesem Urteil lässt sich schliessen, dass EU/EFTA-Staatsangehörige, die der Bettelei nachgehen, weder als Dienstleistungsempfängerinnen und ‑empfänger noch als Erwerbs‑ oder Nichterwerbstätige zu qualifizieren sind. Sie können daher kein Aufenthaltsrecht gestützt auf das FZA geltend machen.</p><p>&nbsp;</p><p>EU/EFTA-Staatsangehörige sowie Drittstaatsangehörige, die der Bettelei nachgehen, erfüllen in der Regel die Voraussetzungen für einen Aufenthalt nach dem AIG oder dem FZA nicht. Das Gleiche gilt grundsätzlich auch bei Personen, die bereits über eine Aufenthaltsbewilligung verfügen. Dabei ist jedoch im Einzelfall zu prüfen, ob die Voraussetzungen, unter welchen ihnen die Bewilligung gewährt wurde, nicht oder nicht mehr erfüllt sind. Die Kantone haben demnach bereits heute die Möglichkeit, Ausländerinnen und Ausländer wegzuweisen, wenn sich herausstellt, dass sie der Bettelei nachgehen (Artikel 64 AIG). Auch können bereits heute Einreiseverbote gegenüber weggewiesenen Ausländerinnen und Ausländer erlassen werden, wenn sie unter anderem nicht innerhalb der angesetzten Frist ausgereist sind (Artikel 67 Abs. 1 Bst. b AIG) oder sie gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen haben (Artikel 67 Abs. 1 Bst. c AIG). Eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist namentlich gegeben bei erheblichen oder wiederholten Verstössen gegen gesetzliche Vorschriften oder behördliche Verfügungen. Bei einem Einreiseverbot gegenüber EU/EFTA-Staatsangehörigen ist Artikel 5 Anhang I FZA zu berücksichtigen. Eine Einschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur zulässig, wenn eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt und diese Gefährdung ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.</p><p>&nbsp;</p><p>Es bestehen demnach bereits ausreichende rechtliche Grundlagen für die Anordnung von Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen gegenüber Ausländerinnen und Ausländern, die der Bettelei nachgehen. Eine Änderung des AIG ist daher nicht erforderlich.</p>
    • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) so zu ändern, dass unter Einhaltung des Völkerrechts ausländischen Personen, die in der Schweiz betteln, eine allfällige Aufenthaltsbewilligung entzogen wird, dass für diese Personen ein Rayonverbot verhängt wird und dass sie, wenn nötig, in ihr Herkunftsland zurückgeschafft werden können.</p>
    • Ausländer- und Integrationsgesetz. Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber nicht für Bettlerinnen und Bettler

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