Artikel 116 AuG. Solidarität nicht mehr kriminalisieren

ShortId
18.461
Id
20180461
Updated
10.04.2024 19:19
Language
de
Title
Artikel 116 AuG. Solidarität nicht mehr kriminalisieren
AdditionalIndexing
1216;2811;1231
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>2008 sagte die ehemalige Bundespräsidentin Ruth Dreifuss in einer Hommage an die Schweizer Gerechten unter den Völkern Folgendes: "Ich denke, dass einige der Menschen, die anderen Menschen halfen, weil diese in ihrem eigenen Land in Gefahr waren, und die dabei sogar das Ausländerrecht missachteten, so handelten, weil sie ihrem Gewissen folgten. Wer sind wir, dass wir uns anmassen, über dieses Gewissen zu richten?" Rund sechzig Schweizerinnen und Schweizer wurden als "Gerechte unter den Völkern" anerkannt. Im Februar letzten Jahres wurde im Bundeshaus ausserdem ein Raum "Carl Lutz" eingeweiht, zu Ehren dieses unerschrockenen Mannes, dessen Menschlichkeit uns inspirieren sollte. Seine Worte waren: "Wenn es so viele Länder gibt, welche die Gesetze verletzen, um zu töten, so dürfte es doch ein Land geben, das die Gesetze verletzt, um zu retten."</p><p>Und nicht zuletzt wurde die damalige Bundespräsidentin Ruth Dreifuss von etwa zwanzig Kriegsflüchtlingen aus dem Kosovo begleitet, als sie 1999 von einem Besuch in Mazedonien zurückkam.</p><p>Doch immer noch wird die Hilfe, die hilfsbedürftigen Menschen geleistet wird, kriminalisiert. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Delikt der Solidarität. In der Schweiz ist die Einreise von Personen ohne Visum aus nichteuropäischen Ländern eine Straftat (Art. 115 Abs. 1 Bst. a AuG). Dies gilt auch für Minderjährige und für verletzliche Personen. Wer bei einer solchen unerlaubten Einreise hilft, fällt unter die Strafbestimmungen von Artikel 116 AuG. Die Strafe dafür kann eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr sein, aber meistens werden die verurteilten Personen mit Tagessätzen belegt, die ihnen einen Eintrag im Strafregister bescheren und ihr Bankkonto belasten. Als erschwerend gilt, wenn die Täterin oder der Täter "für eine Vereinigung oder Gruppe handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung dieser Tat zusammengefunden hat" (Art. 116 Abs. 3 AuG), was mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft wird. Zwar sieht das Strafgesetzbuch (Art. 48) eine Strafmilderung vor, wenn aus achtenswerten Beweggründen gehandelt wurde, aber die beschuldigte Person wird trotzdem strafrechtlich verurteilt.</p><p>2017 wurden in der Schweiz 1175 Personen der Förderung der rechtswidrigen Ein- oder Ausreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts einer Ausländerin oder eines Ausländers beschuldigt (Art. 116 Abs. 1 Bst. a AuG). Der Gesetzgeber bezweckte mit Artikel 116 AuG ursprünglich, die Schlepperkriminalität zu bekämpfen. Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (Anag) enthielt eine Bestimmung, wonach Hilfe unter gewissen Umständen straflos war, soweit sie aus achtenswerten Beweggründen geleistet wurde (Art. 23 Abs. 3 Anag). Diese Bestimmung verschwand 2008, als das Anag durch das AuG ersetzt wurde.</p><p>Das bedeutet, dass Artikel 116 AuG in seiner aktuellen Fassung dazu ermuntert, keine Hilfe zu leisten. Die Bestimmung bewirkt, dass in der Schweiz Menschen kriminalisiert werden, die aus rein humanitären Gründen handeln. Diese Kriminalisierung steht im Widerspruch zum Völkerrecht, das von den Staaten verlangt, dass sie diejenigen Menschen und Vereinigungen schützen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen. Gemäss dem Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten, das für die Schweiz 2006 in Kraft getreten ist, muss strafrechtlich verfolgt werden, wer aus der Schleusung von Migrantinnen und Migranten einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil erlangt. Dies gilt aber nicht für Familienmitglieder und für nichtstaatliche oder religiöse Gruppierungen, die Menschen aus humanitären Gründen oder zu nicht gewinnorientierten Zwecken helfen, illegal in einen Staat einzureisen. </p><p>In verschiedenen europäischen Ländern (Belgien, Griechenland, Spanien, Finnland, Italien, Malta, Vereinigtes Königreich, Kroatien, Irland) existieren rechtliche Bestimmungen, welche die Menschen schützen, die die illegale Einreise, den illegalen Aufenthalt oder die illegale Ausreise von Ausländerinnen und Ausländern erleichtern, wenn diese Menschen aus humanitären Gründen oder in nicht gewinnorientierter Absicht handeln. Die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes haben am 5. Juli 2018 in einer Entschliessung in Erinnerung gerufen, dass die humanitäre Hilfe für Migrantinnen und Migranten nicht kriminalisiert werden darf. Sie haben die Europäische Kommission aufgefordert, für die Mitgliedstaaten klarzustellen, welche Formen der Beihilfe nicht kriminalisiert werden sollten. In Frankreich hat der Conseil constitutionnel, der die Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit hin überprüft, Anfang Juli festgehalten, dass die uneigennützige Hilfe beim unerlaubten Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern nicht als rechtswidrig betrachtet werden kann. Er hat den Gesetzgeber aufgefordert, bestimmte Gesetze entsprechend anzupassen. Auch in der Schweiz muss Artikel 116 AuG geändert werden, damit Menschen, die Hilfe leisten, nicht mehr kriminalisiert werden, wenn sie uneigennützig handeln und keinen persönlichen Gewinn daraus ziehen.</p>
  • <p>Artikel 116 des Ausländergesetzes (AuG) ist so anzupassen, dass Personen, die Hilfe leisten, sich nicht strafbar machen, wenn sie dies aus achtenswerten Gründen tun.</p>
  • Artikel 116 AuG. Solidarität nicht mehr kriminalisieren
State
Erledigt
Related Affairs
  • 20192024
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>2008 sagte die ehemalige Bundespräsidentin Ruth Dreifuss in einer Hommage an die Schweizer Gerechten unter den Völkern Folgendes: "Ich denke, dass einige der Menschen, die anderen Menschen halfen, weil diese in ihrem eigenen Land in Gefahr waren, und die dabei sogar das Ausländerrecht missachteten, so handelten, weil sie ihrem Gewissen folgten. Wer sind wir, dass wir uns anmassen, über dieses Gewissen zu richten?" Rund sechzig Schweizerinnen und Schweizer wurden als "Gerechte unter den Völkern" anerkannt. Im Februar letzten Jahres wurde im Bundeshaus ausserdem ein Raum "Carl Lutz" eingeweiht, zu Ehren dieses unerschrockenen Mannes, dessen Menschlichkeit uns inspirieren sollte. Seine Worte waren: "Wenn es so viele Länder gibt, welche die Gesetze verletzen, um zu töten, so dürfte es doch ein Land geben, das die Gesetze verletzt, um zu retten."</p><p>Und nicht zuletzt wurde die damalige Bundespräsidentin Ruth Dreifuss von etwa zwanzig Kriegsflüchtlingen aus dem Kosovo begleitet, als sie 1999 von einem Besuch in Mazedonien zurückkam.</p><p>Doch immer noch wird die Hilfe, die hilfsbedürftigen Menschen geleistet wird, kriminalisiert. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Delikt der Solidarität. In der Schweiz ist die Einreise von Personen ohne Visum aus nichteuropäischen Ländern eine Straftat (Art. 115 Abs. 1 Bst. a AuG). Dies gilt auch für Minderjährige und für verletzliche Personen. Wer bei einer solchen unerlaubten Einreise hilft, fällt unter die Strafbestimmungen von Artikel 116 AuG. Die Strafe dafür kann eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr sein, aber meistens werden die verurteilten Personen mit Tagessätzen belegt, die ihnen einen Eintrag im Strafregister bescheren und ihr Bankkonto belasten. Als erschwerend gilt, wenn die Täterin oder der Täter "für eine Vereinigung oder Gruppe handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung dieser Tat zusammengefunden hat" (Art. 116 Abs. 3 AuG), was mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft wird. Zwar sieht das Strafgesetzbuch (Art. 48) eine Strafmilderung vor, wenn aus achtenswerten Beweggründen gehandelt wurde, aber die beschuldigte Person wird trotzdem strafrechtlich verurteilt.</p><p>2017 wurden in der Schweiz 1175 Personen der Förderung der rechtswidrigen Ein- oder Ausreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts einer Ausländerin oder eines Ausländers beschuldigt (Art. 116 Abs. 1 Bst. a AuG). Der Gesetzgeber bezweckte mit Artikel 116 AuG ursprünglich, die Schlepperkriminalität zu bekämpfen. Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (Anag) enthielt eine Bestimmung, wonach Hilfe unter gewissen Umständen straflos war, soweit sie aus achtenswerten Beweggründen geleistet wurde (Art. 23 Abs. 3 Anag). Diese Bestimmung verschwand 2008, als das Anag durch das AuG ersetzt wurde.</p><p>Das bedeutet, dass Artikel 116 AuG in seiner aktuellen Fassung dazu ermuntert, keine Hilfe zu leisten. Die Bestimmung bewirkt, dass in der Schweiz Menschen kriminalisiert werden, die aus rein humanitären Gründen handeln. Diese Kriminalisierung steht im Widerspruch zum Völkerrecht, das von den Staaten verlangt, dass sie diejenigen Menschen und Vereinigungen schützen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen. Gemäss dem Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten, das für die Schweiz 2006 in Kraft getreten ist, muss strafrechtlich verfolgt werden, wer aus der Schleusung von Migrantinnen und Migranten einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil erlangt. Dies gilt aber nicht für Familienmitglieder und für nichtstaatliche oder religiöse Gruppierungen, die Menschen aus humanitären Gründen oder zu nicht gewinnorientierten Zwecken helfen, illegal in einen Staat einzureisen. </p><p>In verschiedenen europäischen Ländern (Belgien, Griechenland, Spanien, Finnland, Italien, Malta, Vereinigtes Königreich, Kroatien, Irland) existieren rechtliche Bestimmungen, welche die Menschen schützen, die die illegale Einreise, den illegalen Aufenthalt oder die illegale Ausreise von Ausländerinnen und Ausländern erleichtern, wenn diese Menschen aus humanitären Gründen oder in nicht gewinnorientierter Absicht handeln. Die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes haben am 5. Juli 2018 in einer Entschliessung in Erinnerung gerufen, dass die humanitäre Hilfe für Migrantinnen und Migranten nicht kriminalisiert werden darf. Sie haben die Europäische Kommission aufgefordert, für die Mitgliedstaaten klarzustellen, welche Formen der Beihilfe nicht kriminalisiert werden sollten. In Frankreich hat der Conseil constitutionnel, der die Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit hin überprüft, Anfang Juli festgehalten, dass die uneigennützige Hilfe beim unerlaubten Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern nicht als rechtswidrig betrachtet werden kann. Er hat den Gesetzgeber aufgefordert, bestimmte Gesetze entsprechend anzupassen. Auch in der Schweiz muss Artikel 116 AuG geändert werden, damit Menschen, die Hilfe leisten, nicht mehr kriminalisiert werden, wenn sie uneigennützig handeln und keinen persönlichen Gewinn daraus ziehen.</p>
    • <p>Artikel 116 des Ausländergesetzes (AuG) ist so anzupassen, dass Personen, die Hilfe leisten, sich nicht strafbar machen, wenn sie dies aus achtenswerten Gründen tun.</p>
    • Artikel 116 AuG. Solidarität nicht mehr kriminalisieren

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