Eigener Straftatbestand für Arbeitsausbeutung

ShortId
18.3526
Id
20183526
Updated
28.07.2023 03:21
Language
de
Title
Eigener Straftatbestand für Arbeitsausbeutung
AdditionalIndexing
1216;44;1236
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>1. Für einen Überblick über Gesetzgebungen und Erfahrungen in anderen europäischen Ländern kann auf die Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) aus dem Jahre 2015 (<a href="http://fra.europa.eu/en/publication/2015/severe-labour-exploitation-workers-moving-within-or-european-union">http://fra.europa.eu/en/publication/2015/severe-labour-exploitation-workers-moving-within-or-european-union</a>) verwiesen werden. Es handelt sich dabei um die erste Forschungsarbeit der EU, die umfassend alle strafbaren Formen der Ausbeutung von Arbeitnehmenden aus anderen EU-Mitgliedstaaten oder aus Drittstaaten untersucht. Die Studie hält fest, dass die einzelnen EU-Mitgliedstaaten verschiedene Definitionen von Arbeitsausbeutung kennen und dass unterschiedliche Massnahmen zur Bekämpfung von Arbeitsausbeutung ergriffen werden. Sie macht eine Reihe von Vorschlägen für die Verbesserung der Situation, die in erster Linie den Bereich der Prävention betreffen.</p><p>2./3. Nach geltendem Strafrecht ist Menschenhandel, namentlich auch zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, strafbar (Art. 182 StGB). Bei Ausbeutung, die nicht die Merkmale von Menschenhandel aufweist, kann das Verhalten unter andere straf- und zivilrechtliche, insbesondere arbeitsrechtliche Gesetzesbestimmungen fallen. Im Strafrecht können insbesondere die Tatbestände der Körperverletzung (Art. 122ff. StGB), der Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB), der Drohung (Art. 180 StGB), der Nötigung (Art. 181 StGB) oder der Freiheitsberaubung (Art. 183 StGB) sowie des Betrugs (Art. 146 StGB) und des Wuchers (Art. 157 StGB) gegeben sein. Im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls massgebend ist das Entsendegesetz (EntsG; SR 823.20), das unter anderem die Kontrolle der Arbeitgeber, die gegen Bestimmungen über den Mindestlohn verstossen, im Visier hat. Dazu kommen arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen im Obligationenrecht, im Arbeitsgesetz, im Bundesgesetz gegen Schwarzarbeit sowie in den Gesamtarbeitsverträgen. Das Eidgenössische Arbeitsinspektorat koordiniert und unterstützt den Vollzug der Vorschriften für den Arbeitnehmerschutz (namentlich Gesundheitsschutz und Berufsunfallverhütung) durch die Kantone. Die kantonalen Arbeitsinspektorate kontrollieren die Betriebe.</p><p>Die geltenden Straf- und anderen Bestimmungen decken ein breites Spektrum von Missständen verschiedener Schweregrade in der Arbeitswelt ab. Ob ein separater Straftatbestand der Arbeitsausbeutung dazu beitragen könnte, solche Ausbeutungssituationen besser zu bekämpfen und zu verhindern, ist zweifelhaft. Die für einen separaten Strafrechtstatbestand notwendige Definition von Arbeitsausbeutung ist aufgrund der Vielfältigkeit des Begriffs schwierig. Bestehende praktische Schwierigkeiten und Missstände sind mittels präventiver Massnahmen und verbesserter Zusammenarbeit der beteiligten Akteure und nicht mit einer Zeichensetzung im Strafrecht zu lösen. Strafrecht muss immer Ultima Ratio sein. Es ist zudem darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Studie der Uni Neuenburg, die sich in erster Linie mit der Arbeitsausbeutung im Kontext von Menschenhandel befasst, keine vertiefte Auseinandersetzung mit Rechtskonzepten und Rechtsprechung vornimmt.</p><p>Es gibt zurzeit nur wenige Verfahren und Urteile zum Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft. Entsprechend besteht noch wenig Erfahrung in der Beweisführung und Strafverfolgung dieses Delikts. Inzwischen werden jedoch - nicht zuletzt dank der zunehmenden Sensibilisierung - zunehmend neue Fälle in den Kantonen bearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Bearbeitung und gerichtlichen Beurteilung dieser Fälle sind abzuwarten und bei der laufenden Gesamtbeurteilung der Frage eines gesetzgeberischen Handlungsbedarfs zu berücksichtigen.</p><p>4. Artikel 195 StGB ist nicht ein Auffangtatbestand zum Menschenhandel (Art. 182 StGB). Artikel 182 StGB schützt per se die Freiheit und spezifisch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Artikel 195 StGB hingegen spezifisch die sexuelle Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Prostitution. Eine Analogie zur Ausbeutung der Arbeitskraft lässt sich daher nicht ziehen. Ein Auffangtatbestand hinsichtlich Arbeitsausbeutung müsste zudem nicht nur gegenüber dem Menschenhandel, sondern gegenüber praktisch allen oben unter den Ziffern 2 und 3 genannten Straftatbeständen abgegrenzt werden, namentlich auch gegenüber der Nötigung und dem Wucher. Dies würde regelmässig zu Überschneidungen und Doppelspurigkeiten mit den genannten Strafnormen führen.</p> Antwort des Bundesrates.
  • <p>Eine Studie der Universität Neuenburg kommt zu dem Schluss, dass das Phänomen der Arbeitsausbeutung und des Menschenhandels zu diesem Zweck in der Schweiz existiert. Die Dunkelziffer nichtentdeckter Ausbeutungssituationen schätzen Fachpersonen als hoch ein.</p><p>Als quasi unbestritten gilt in Fachkreisen, dass die momentane Rechtslage und -anwendung kaum abschreckende Wirkung hat. Die Hürden für eine Verurteilung im Sinne von Artikel 182 (Menschenhandel) oder Artikel 157 (Wucher) des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) sind sehr hoch, die Beweisführung ist aufwendig und das Strafmass bei Verurteilungen oft so gering, dass sich Ausbeutung trotzdem wirtschaftlich lohnt. </p><p>Ich bitte den Bundesrat, folgende Fragen zu beantworten:</p><p>1. Welche europäischen Länder verfügen seit wann über einen eigenen Straftatbestand für "Arbeitsausbeutung"? Welche Erfahrungswerte liegen zu dessen Wirksamkeit auf Prävention, Opferhilfe, Täteridentifikation und Strafverfolgung vor?</p><p>2. Die Einführung eines eigenen (Auffang-)Straftatbestands "Arbeitsausbeutung" kann den Unrechtsgehalt der modernen Sklaverei insbesondere in den Fällen angemessen erfassen und sanktionieren, in denen eine Verurteilung wegen Menschenhandels nicht möglich ist, weil z. B. die ausgebeutete Person nicht "gehandelt" wurde, die Beweisführung für Menschenhandel nicht ausreicht oder keine anderen Tatbestände (z. B. Wucher, Betrug usw.) erfüllt sind, sich die Tat also im blossen Ausnutzen der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit des Opfers erschöpft. Teilt er diese Auffassung? Wenn nein, weshalb nicht? Welche Alternativen schlägt er in obengenannten Fällen vor?</p><p>3. In Fällen, in denen der Tatbestand des Menschenhandels nicht greift, wird das Ausweichen auf untergeordnete Delikte der realen Unrechtssituation sowie den sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen nicht gerecht und sanktioniert diese oft zu milde. Dies führt zu einer fatalen Bagatellisierung. Welchen Handlungsbedarf sieht er hier?</p><p>4. Artikel 195 StGB stellt als Auffangstraftatbestand die sexuelle Ausbeutung auch ohne Kontext des Menschenhandels unter Strafe. Teilt der Bundesrat die Auffassung, dass dies die Ermittlung und Strafverfolgung in der Schweiz erleichtert hat? Was würde dagegensprechen, analog dazu einen eigenen (Auffang-)Straftatbestand für Arbeitsausbeutung einzuführen?</p>
  • Eigener Straftatbestand für Arbeitsausbeutung
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>1. Für einen Überblick über Gesetzgebungen und Erfahrungen in anderen europäischen Ländern kann auf die Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) aus dem Jahre 2015 (<a href="http://fra.europa.eu/en/publication/2015/severe-labour-exploitation-workers-moving-within-or-european-union">http://fra.europa.eu/en/publication/2015/severe-labour-exploitation-workers-moving-within-or-european-union</a>) verwiesen werden. Es handelt sich dabei um die erste Forschungsarbeit der EU, die umfassend alle strafbaren Formen der Ausbeutung von Arbeitnehmenden aus anderen EU-Mitgliedstaaten oder aus Drittstaaten untersucht. Die Studie hält fest, dass die einzelnen EU-Mitgliedstaaten verschiedene Definitionen von Arbeitsausbeutung kennen und dass unterschiedliche Massnahmen zur Bekämpfung von Arbeitsausbeutung ergriffen werden. Sie macht eine Reihe von Vorschlägen für die Verbesserung der Situation, die in erster Linie den Bereich der Prävention betreffen.</p><p>2./3. Nach geltendem Strafrecht ist Menschenhandel, namentlich auch zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, strafbar (Art. 182 StGB). Bei Ausbeutung, die nicht die Merkmale von Menschenhandel aufweist, kann das Verhalten unter andere straf- und zivilrechtliche, insbesondere arbeitsrechtliche Gesetzesbestimmungen fallen. Im Strafrecht können insbesondere die Tatbestände der Körperverletzung (Art. 122ff. StGB), der Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB), der Drohung (Art. 180 StGB), der Nötigung (Art. 181 StGB) oder der Freiheitsberaubung (Art. 183 StGB) sowie des Betrugs (Art. 146 StGB) und des Wuchers (Art. 157 StGB) gegeben sein. Im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls massgebend ist das Entsendegesetz (EntsG; SR 823.20), das unter anderem die Kontrolle der Arbeitgeber, die gegen Bestimmungen über den Mindestlohn verstossen, im Visier hat. Dazu kommen arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen im Obligationenrecht, im Arbeitsgesetz, im Bundesgesetz gegen Schwarzarbeit sowie in den Gesamtarbeitsverträgen. Das Eidgenössische Arbeitsinspektorat koordiniert und unterstützt den Vollzug der Vorschriften für den Arbeitnehmerschutz (namentlich Gesundheitsschutz und Berufsunfallverhütung) durch die Kantone. Die kantonalen Arbeitsinspektorate kontrollieren die Betriebe.</p><p>Die geltenden Straf- und anderen Bestimmungen decken ein breites Spektrum von Missständen verschiedener Schweregrade in der Arbeitswelt ab. Ob ein separater Straftatbestand der Arbeitsausbeutung dazu beitragen könnte, solche Ausbeutungssituationen besser zu bekämpfen und zu verhindern, ist zweifelhaft. Die für einen separaten Strafrechtstatbestand notwendige Definition von Arbeitsausbeutung ist aufgrund der Vielfältigkeit des Begriffs schwierig. Bestehende praktische Schwierigkeiten und Missstände sind mittels präventiver Massnahmen und verbesserter Zusammenarbeit der beteiligten Akteure und nicht mit einer Zeichensetzung im Strafrecht zu lösen. Strafrecht muss immer Ultima Ratio sein. Es ist zudem darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Studie der Uni Neuenburg, die sich in erster Linie mit der Arbeitsausbeutung im Kontext von Menschenhandel befasst, keine vertiefte Auseinandersetzung mit Rechtskonzepten und Rechtsprechung vornimmt.</p><p>Es gibt zurzeit nur wenige Verfahren und Urteile zum Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft. Entsprechend besteht noch wenig Erfahrung in der Beweisführung und Strafverfolgung dieses Delikts. Inzwischen werden jedoch - nicht zuletzt dank der zunehmenden Sensibilisierung - zunehmend neue Fälle in den Kantonen bearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Bearbeitung und gerichtlichen Beurteilung dieser Fälle sind abzuwarten und bei der laufenden Gesamtbeurteilung der Frage eines gesetzgeberischen Handlungsbedarfs zu berücksichtigen.</p><p>4. Artikel 195 StGB ist nicht ein Auffangtatbestand zum Menschenhandel (Art. 182 StGB). Artikel 182 StGB schützt per se die Freiheit und spezifisch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Artikel 195 StGB hingegen spezifisch die sexuelle Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Prostitution. Eine Analogie zur Ausbeutung der Arbeitskraft lässt sich daher nicht ziehen. Ein Auffangtatbestand hinsichtlich Arbeitsausbeutung müsste zudem nicht nur gegenüber dem Menschenhandel, sondern gegenüber praktisch allen oben unter den Ziffern 2 und 3 genannten Straftatbeständen abgegrenzt werden, namentlich auch gegenüber der Nötigung und dem Wucher. Dies würde regelmässig zu Überschneidungen und Doppelspurigkeiten mit den genannten Strafnormen führen.</p> Antwort des Bundesrates.
    • <p>Eine Studie der Universität Neuenburg kommt zu dem Schluss, dass das Phänomen der Arbeitsausbeutung und des Menschenhandels zu diesem Zweck in der Schweiz existiert. Die Dunkelziffer nichtentdeckter Ausbeutungssituationen schätzen Fachpersonen als hoch ein.</p><p>Als quasi unbestritten gilt in Fachkreisen, dass die momentane Rechtslage und -anwendung kaum abschreckende Wirkung hat. Die Hürden für eine Verurteilung im Sinne von Artikel 182 (Menschenhandel) oder Artikel 157 (Wucher) des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) sind sehr hoch, die Beweisführung ist aufwendig und das Strafmass bei Verurteilungen oft so gering, dass sich Ausbeutung trotzdem wirtschaftlich lohnt. </p><p>Ich bitte den Bundesrat, folgende Fragen zu beantworten:</p><p>1. Welche europäischen Länder verfügen seit wann über einen eigenen Straftatbestand für "Arbeitsausbeutung"? Welche Erfahrungswerte liegen zu dessen Wirksamkeit auf Prävention, Opferhilfe, Täteridentifikation und Strafverfolgung vor?</p><p>2. Die Einführung eines eigenen (Auffang-)Straftatbestands "Arbeitsausbeutung" kann den Unrechtsgehalt der modernen Sklaverei insbesondere in den Fällen angemessen erfassen und sanktionieren, in denen eine Verurteilung wegen Menschenhandels nicht möglich ist, weil z. B. die ausgebeutete Person nicht "gehandelt" wurde, die Beweisführung für Menschenhandel nicht ausreicht oder keine anderen Tatbestände (z. B. Wucher, Betrug usw.) erfüllt sind, sich die Tat also im blossen Ausnutzen der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit des Opfers erschöpft. Teilt er diese Auffassung? Wenn nein, weshalb nicht? Welche Alternativen schlägt er in obengenannten Fällen vor?</p><p>3. In Fällen, in denen der Tatbestand des Menschenhandels nicht greift, wird das Ausweichen auf untergeordnete Delikte der realen Unrechtssituation sowie den sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen nicht gerecht und sanktioniert diese oft zu milde. Dies führt zu einer fatalen Bagatellisierung. Welchen Handlungsbedarf sieht er hier?</p><p>4. Artikel 195 StGB stellt als Auffangstraftatbestand die sexuelle Ausbeutung auch ohne Kontext des Menschenhandels unter Strafe. Teilt der Bundesrat die Auffassung, dass dies die Ermittlung und Strafverfolgung in der Schweiz erleichtert hat? Was würde dagegensprechen, analog dazu einen eigenen (Auffang-)Straftatbestand für Arbeitsausbeutung einzuführen?</p>
    • Eigener Straftatbestand für Arbeitsausbeutung

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