Differenzierter Föderalismus. Eine Möglichkeit für die Schweiz?

ShortId
19.3355
Id
20193355
Updated
28.07.2023 02:45
Language
de
Title
Differenzierter Föderalismus. Eine Möglichkeit für die Schweiz?
AdditionalIndexing
04
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>Die Schweiz ist ein föderalistischer Staat. Kleinstaaten haben sich zusammengeschlossen im Willen, sich ihre Autonomie, ihre Eigenart und ihre Rechte zu bewahren. Indem sie dies taten, schlossen sie nicht einfach einen Vertrag auf Zeit, sondern verpflichteten sich mit ihrer Ehre und in gegenseitigem Vertrauen durch einen feierlichen Eid. So weit die Geschichte unserer Verfassung und ihrer Institutionen.</p><p>Seither schrumpfen die Zuständigkeiten der Kantone kontinuierlich. Seit Jahrzehnten herrscht in der helvetischen Politik eine Grundtendenz der Zentralisierung der Kompetenzen. Denken wir nur an den so wichtigen Bereich der Raumplanung, an die Steuerharmonisierung oder an die zunehmende Vereinheitlichung des Bildungssystems.</p><p>Artikel 3 der Bundesverfassung statuiert als Grundprinzip unseres Institutionengefüges die originäre Kompetenz der Kantone. Wir müssen jedoch feststellen, dass die zunehmende Anhäufung von Kompetenzen, die an den Bund delegiert werden, schleichend zu einer Art Grundkompetenz des Bundes führt. Dieser Prozess führt zu einer immer stärkeren Diskrepanz zwischen dem Verfassungsgrundsatz und der effektiven verfassungsmässigen und gesetzlichen Zuständigkeitsordnung unserer Institutionen.</p><p>Offenkundig fehlt in unserem System ein Mechanismus, mit dem der Zentralisierung Gegensteuer gegeben und den Kantonen verlorengegangene Zuständigkeiten zurückgegeben werden könnten.</p><p>Es gibt andere föderalistisch organisierte Staaten, die vor dem gleichen Problem stehen. So hat sich etwa Kanada ein System des Opting-out ausgedacht. Gemäss der kanadischen Verfassung von 1982 hat jede Provinz das Recht, sich einer Änderung der Zuständigkeitsordnung zu widersetzen, die in ihre bestehenden Rechtsetzungskompetenzen, in ihre Eigentumsrechte oder in jedes andere Recht oder Privileg ihrer gesetzgebenden oder exekutiven Gewalt eingreifen würde.</p><p>Natürlich ist die Schweiz nicht Kanada. Vielleicht könnte sie sich aber dennoch vom kanadischen Vorbild oder von den dahinterstehenden Überlegungen in Sachen differenziertem Föderalismus inspirieren lassen. Es geht um nichts weniger als um die Bewahrung oder Wiederherstellung der Vielfalt, die die Stärke der Schweiz ausmacht.</p>
  • <p>Der Föderalismus ist ein wesentliches Element für einen gut funktionierenden Schweizer Staat. Er ermöglicht den Zusammenhalt einer Bevölkerung, die in unterschiedlichen Regionen lebt und vier Sprachen spricht. Der Bundesrat hat Verständnis für das Anliegen der Interpellation. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität anhand einer klaren und kohärenten Abgrenzung erfolgen muss.</p><p>Der Bundesrat kann die Fragen wie folgt beantworten:</p><p>1. Es gibt wahrscheinlich so viele Arten des Föderalismus wie Bundesstaaten. Es ist deshalb schwierig, institutionelle Mechanismen zu beurteilen, die oft komplex und Teil eines besonderen juristischen, historischen, politischen und geografischen Kontexts sind. Das Recht auf Nichtunterstellung (Opting-out) bietet den kanadischen Provinzen die Möglichkeit, sich der Anwendung bestimmter Verfassungsänderungen zu entziehen. Das Recht ist verbunden mit einem Recht auf eine finanzielle Abgeltung. So soll vermieden werden, dass die Bürgerinnen und Bürger von Provinzen, die ihr Recht auf ein Opting-out genutzt haben, benachteiligt werden, indem sie die Programme ihrer Provinz sowie die Programme des Bundes, von denen sie nicht profitieren, finanzieren müssen. Diese Lösung kann im Kontext des kanadischen Föderalismus sinnvoll sein, sie lässt sich jedoch nicht unbedingt übertragen. Dasselbe gilt für den Schweizer Föderalismus, der besonders zum Schweizer Kontext passt, aber nicht zwingend in einem anderen Kontext funktionieren würde. </p><p>2. Für jede Übertragung von Kompetenzen auf den Bund bedarf es des doppelten Mehrs von Volk und Ständen. Es ist schwer vorstellbar, wie sich ein Kanton oder mehrere Kantone unter Missachtung des Volksentscheids einem zustande gekommenen doppelten Mehr entziehen könnten. Eine Opting-out-Regelung wäre zudem kaum mit dem in der Bundesverfassung verankerten Subsidiaritätsprinzip (Art. 43a Abs. 1 BV; SR 101) zu vereinbaren. Gemäss diesem Grundsatz übernimmt der Bund nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen. Ein Recht auf ein Opting-out einzuführen ergäbe folglich keinen Sinn. Darüber hinaus besteht im Schweizer Recht mit dem Instrument des interkantonalen Konkordats bereits die Möglichkeit einer differenzierten Harmonisierung des Rechts. Eine Opting-out-Regelung nach dem Vorbild Kanadas wäre folglich schwer mit unseren Volksrechten und den Grundsätzen des Schweizer Föderalismus vereinbar. Der Bundesrat erachtet es als sinnvoller, die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen periodisch zu überprüfen, wie er dies in seinem Bericht "<a href="https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/53827.pdf">Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen</a>" vom 28. September 2018 in Erfüllung der Motion 13.3363 vorsieht.</p> Antwort des Bundesrates.
  • <p>1. Was hält der Bundesrat vom kanadischen Verfassungssystem des Opting-out?</p><p>2. Hält der Bundesrat es für sinnvoll, dass die Schweiz sich von diesem System inspirieren lässt und in der Bundesverfassung einen Mechanismus vorsieht, der es den Kantonen erlaubt, dass sie, wenn sie dies möchten, gewisse Bundeskompetenzen zurückholen, und dies, ohne dass dadurch die anderen Kantone gezwungen würden, es ihnen gleichzutun (differenzierter Föderalismus)?</p>
  • Differenzierter Föderalismus. Eine Möglichkeit für die Schweiz?
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>Die Schweiz ist ein föderalistischer Staat. Kleinstaaten haben sich zusammengeschlossen im Willen, sich ihre Autonomie, ihre Eigenart und ihre Rechte zu bewahren. Indem sie dies taten, schlossen sie nicht einfach einen Vertrag auf Zeit, sondern verpflichteten sich mit ihrer Ehre und in gegenseitigem Vertrauen durch einen feierlichen Eid. So weit die Geschichte unserer Verfassung und ihrer Institutionen.</p><p>Seither schrumpfen die Zuständigkeiten der Kantone kontinuierlich. Seit Jahrzehnten herrscht in der helvetischen Politik eine Grundtendenz der Zentralisierung der Kompetenzen. Denken wir nur an den so wichtigen Bereich der Raumplanung, an die Steuerharmonisierung oder an die zunehmende Vereinheitlichung des Bildungssystems.</p><p>Artikel 3 der Bundesverfassung statuiert als Grundprinzip unseres Institutionengefüges die originäre Kompetenz der Kantone. Wir müssen jedoch feststellen, dass die zunehmende Anhäufung von Kompetenzen, die an den Bund delegiert werden, schleichend zu einer Art Grundkompetenz des Bundes führt. Dieser Prozess führt zu einer immer stärkeren Diskrepanz zwischen dem Verfassungsgrundsatz und der effektiven verfassungsmässigen und gesetzlichen Zuständigkeitsordnung unserer Institutionen.</p><p>Offenkundig fehlt in unserem System ein Mechanismus, mit dem der Zentralisierung Gegensteuer gegeben und den Kantonen verlorengegangene Zuständigkeiten zurückgegeben werden könnten.</p><p>Es gibt andere föderalistisch organisierte Staaten, die vor dem gleichen Problem stehen. So hat sich etwa Kanada ein System des Opting-out ausgedacht. Gemäss der kanadischen Verfassung von 1982 hat jede Provinz das Recht, sich einer Änderung der Zuständigkeitsordnung zu widersetzen, die in ihre bestehenden Rechtsetzungskompetenzen, in ihre Eigentumsrechte oder in jedes andere Recht oder Privileg ihrer gesetzgebenden oder exekutiven Gewalt eingreifen würde.</p><p>Natürlich ist die Schweiz nicht Kanada. Vielleicht könnte sie sich aber dennoch vom kanadischen Vorbild oder von den dahinterstehenden Überlegungen in Sachen differenziertem Föderalismus inspirieren lassen. Es geht um nichts weniger als um die Bewahrung oder Wiederherstellung der Vielfalt, die die Stärke der Schweiz ausmacht.</p>
    • <p>Der Föderalismus ist ein wesentliches Element für einen gut funktionierenden Schweizer Staat. Er ermöglicht den Zusammenhalt einer Bevölkerung, die in unterschiedlichen Regionen lebt und vier Sprachen spricht. Der Bundesrat hat Verständnis für das Anliegen der Interpellation. Er ist jedoch der Auffassung, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität anhand einer klaren und kohärenten Abgrenzung erfolgen muss.</p><p>Der Bundesrat kann die Fragen wie folgt beantworten:</p><p>1. Es gibt wahrscheinlich so viele Arten des Föderalismus wie Bundesstaaten. Es ist deshalb schwierig, institutionelle Mechanismen zu beurteilen, die oft komplex und Teil eines besonderen juristischen, historischen, politischen und geografischen Kontexts sind. Das Recht auf Nichtunterstellung (Opting-out) bietet den kanadischen Provinzen die Möglichkeit, sich der Anwendung bestimmter Verfassungsänderungen zu entziehen. Das Recht ist verbunden mit einem Recht auf eine finanzielle Abgeltung. So soll vermieden werden, dass die Bürgerinnen und Bürger von Provinzen, die ihr Recht auf ein Opting-out genutzt haben, benachteiligt werden, indem sie die Programme ihrer Provinz sowie die Programme des Bundes, von denen sie nicht profitieren, finanzieren müssen. Diese Lösung kann im Kontext des kanadischen Föderalismus sinnvoll sein, sie lässt sich jedoch nicht unbedingt übertragen. Dasselbe gilt für den Schweizer Föderalismus, der besonders zum Schweizer Kontext passt, aber nicht zwingend in einem anderen Kontext funktionieren würde. </p><p>2. Für jede Übertragung von Kompetenzen auf den Bund bedarf es des doppelten Mehrs von Volk und Ständen. Es ist schwer vorstellbar, wie sich ein Kanton oder mehrere Kantone unter Missachtung des Volksentscheids einem zustande gekommenen doppelten Mehr entziehen könnten. Eine Opting-out-Regelung wäre zudem kaum mit dem in der Bundesverfassung verankerten Subsidiaritätsprinzip (Art. 43a Abs. 1 BV; SR 101) zu vereinbaren. Gemäss diesem Grundsatz übernimmt der Bund nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen. Ein Recht auf ein Opting-out einzuführen ergäbe folglich keinen Sinn. Darüber hinaus besteht im Schweizer Recht mit dem Instrument des interkantonalen Konkordats bereits die Möglichkeit einer differenzierten Harmonisierung des Rechts. Eine Opting-out-Regelung nach dem Vorbild Kanadas wäre folglich schwer mit unseren Volksrechten und den Grundsätzen des Schweizer Föderalismus vereinbar. Der Bundesrat erachtet es als sinnvoller, die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen periodisch zu überprüfen, wie er dies in seinem Bericht "<a href="https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/53827.pdf">Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen</a>" vom 28. September 2018 in Erfüllung der Motion 13.3363 vorsieht.</p> Antwort des Bundesrates.
    • <p>1. Was hält der Bundesrat vom kanadischen Verfassungssystem des Opting-out?</p><p>2. Hält der Bundesrat es für sinnvoll, dass die Schweiz sich von diesem System inspirieren lässt und in der Bundesverfassung einen Mechanismus vorsieht, der es den Kantonen erlaubt, dass sie, wenn sie dies möchten, gewisse Bundeskompetenzen zurückholen, und dies, ohne dass dadurch die anderen Kantone gezwungen würden, es ihnen gleichzutun (differenzierter Föderalismus)?</p>
    • Differenzierter Föderalismus. Eine Möglichkeit für die Schweiz?

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