Die direkte Demokratie stärken. In dubio pro populo!

ShortId
19.3466
Id
20193466
Updated
28.07.2023 02:56
Language
de
Title
Die direkte Demokratie stärken. In dubio pro populo!
AdditionalIndexing
04;1221
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>Seit einigen Jahren ist eine zunehmende Tendenz feststellbar, Volksinitiativen für ungültig zu erklären; dies insbesondere vonseiten des Bundesgerichtes. Die Folge davon ist, dass in all diesen Fällen das Volk der Möglichkeit beraubt wird, sich zu bestimmten Fragen zu äussern, und es sind manchmal wichtige Fragen. Es stellt sich aber auch ein immer gravierenderes institutionelles Problem, das speziell die Zukunft unserer direkten Demokratie betrifft, auf die wir zu Recht sehr stolz sind: das Gewicht, das sich die judikative Gewalt in der politischen Auseinandersetzung anmasst; damit bildet sich eine Art "Richterstaat" heraus.</p><p>Auf der anderen Seite ist es aber so, dass das Bundesgericht, wenn es sich zur Gültigkeit einer Volksinitiative zu äussern hat, regelmässig - und sehr zu Recht - den Grundsatz "in dubio pro populo" anruft, um ihn dann allerdings - und dies immer öfters - sogleich mit Füssen zu treten.</p><p>Die Bedeutung dieses Grundsatzes ist gemäss ständiger Rechtsprechung, dass der Text einer Initiative, wenn er mehrdeutig ist, wenn immer möglich so auszulegen ist, dass es zur Volksabstimmung kommen kann. Demnach sollten Ungültigerklärungen so weit als möglich vermieden werden, indem die für die Initiantinnen und Initianten günstigste Auslegung gesucht wird. Diese Herangehensweise ist auch ein Ausfluss des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 34 und 36 Abs. 2 und 3 BV), das gebietet, dass staatliches Handeln geringstmögliche Eingriffe in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zur Folge hat (vgl. namentlich BGE 143 I 129 E. 2.2).</p><p>Um die direkte Demokratie in ihrer Vitalität, die in den letzten Jahren zu oft zu leiden hatte, zu bewahren, ist es angezeigt, den Grundsatz "in dubio pro populo" in der Verfassung oder im Gesetz zu verankern.</p>
  • <p>In den letzten Jahren hat sich das Bundesgericht (BGer) wiederholt zur Gültigkeit verschiedener kantonaler Volksinitiativen geäussert (siehe z. B. BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?lang=de&amp;type=show_document&amp;highlight_docid=atf://143-I-129">143 I 129</a> und <a href="http://relevancy.bger.ch/php/clir/http/index.php?lang=de&amp;type=show_document&amp;page=1&amp;from_date=&amp;to_date=&amp;from_year=1954&amp;to_year=2019&amp;sort=relevance&amp;insertion_date=&amp;from_date_push=&amp;top_subcollection_clir=bge&amp;query_words=&amp;part=all&amp;de_fr=&amp;de_it=&amp;fr_de=&amp;fr_it=&amp;it_de=&amp;it_fr=&amp;orig=&amp;translation=&amp;rank=0&amp;highlight_docid=atf://138-I-131:de&amp;number_of_ranks=0&amp;azaclir=clir">138 I 131</a>). In seinen Urteilen hat es dabei immer den Grundsatz "in dubio pro populo" berücksichtigt, wonach mehrdeutige Texte im Zweifel der Volksabstimmung zu unterstellen sind. Der Grundsatz leitet sich auch aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip ab (Art. 34 und 36 Abs. 2 und 3 BV; SR 101), nach welchem ein staatlicher Eingriff die Bürgerrechte so wenig wie möglich einschränken soll (BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/fr/php/aza/http/index.php?lang=fr&amp;type=show_document&amp;highlight_docid=atf://143-I-129">143 I 129</a> E. 2.2 S. 133). Das BGer muss diesen Grundsatz jedoch gegen andere abwägen, etwa die Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht (statt vieler: BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/fr/php/aza/http/index.php?lang=fr&amp;type=show_document&amp;highlight_docid=atf://143-I-129">143 I 129</a> E. 2.3). </p><p>2018 hat das BGer zweimal eine Beschwerde gegen eine Ungültigerklärung kantonaler Volksinitiativen abgelehnt im Wesentlichen mit der Begründung, die kantonalen Instanzen seien zu Recht davon ausgegangen, der Wortlaut der Initiativen verstosse gegen übergeordnetes Recht (vgl. Urteil BGer <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza://20-08-2018-1C_76-2018&amp;lang=de&amp;type=show_document&amp;zoom=YES&amp;">1C_76/2018</a> vom 20. August 2018 zur Initiative "Kopfbedeckungsverbot an Walliser Schulen" sowie Urteil BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?lang=de&amp;type=highlight_simple_query&amp;page=1&amp;from_date=&amp;to_date=&amp;sort=relevance&amp;insertion_date=&amp;top_subcollection_aza=all&amp;query_words=1C_136/2018&amp;highlight_docid=atf://145-I-167:de&amp;azaclir=aza">145 I 167</a> vom 26. November 2018 zur Initiative "Immigration libre et frontières ouvertes: Gardons nos places de travail en priorité pour nos résidents"). Dabei ist es nicht von seiner ständigen Rechtsprechung abgewichen. Vielmehr ist es bei der Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro populo" jeweils zum Schluss gelangt, dass die Volksinitiativen keinen Spielraum für eine mit dem übergeordneten Recht vereinbare Auslegung lassen. Diese Beispiele vermögen folglich die vom Motionär festgestellte Tendenz nicht zu stützen, das BGer habe in seiner jüngeren Rechtsprechung kantonale Volksinitiativen häufiger für ungültig erklärt oder stelle den Grundsatz "in dubio pro populo" in den letzten Jahren vermehrt infrage. </p><p>Nach der Auffassung des Bundesrates deutet nichts darauf hin, dass der Grundsatz "in dubio pro populo" in der Rechtsordnung ungenügend verankert wäre. Abgesehen davon, dass sich der Grundsatz bereits heute aus der Bundesverfassung ergibt, vermöchte seine spezifische Verankerung in einem Gesetz oder in der Bundesverfassung die Tragweite im Einzelfall kaum zu erhöhen. Denn auch in diesem Fall wären die Bundesbehörden jeweils gehalten zu prüfen, ob im konkreten Fall ein hinreichender Auslegungsspielraum zugunsten der Initiative besteht. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheide in Fällen wie den genannten kaum anders ausfallen würden.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion.
  • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament eine Vorlage zu unterbreiten, die den von der Rechtsprechung des Bundesgerichtes entwickelten Grundsatz "in dubio pro populo" in die Gesetzgebung einfügt.</p>
  • Die direkte Demokratie stärken. In dubio pro populo!
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>Seit einigen Jahren ist eine zunehmende Tendenz feststellbar, Volksinitiativen für ungültig zu erklären; dies insbesondere vonseiten des Bundesgerichtes. Die Folge davon ist, dass in all diesen Fällen das Volk der Möglichkeit beraubt wird, sich zu bestimmten Fragen zu äussern, und es sind manchmal wichtige Fragen. Es stellt sich aber auch ein immer gravierenderes institutionelles Problem, das speziell die Zukunft unserer direkten Demokratie betrifft, auf die wir zu Recht sehr stolz sind: das Gewicht, das sich die judikative Gewalt in der politischen Auseinandersetzung anmasst; damit bildet sich eine Art "Richterstaat" heraus.</p><p>Auf der anderen Seite ist es aber so, dass das Bundesgericht, wenn es sich zur Gültigkeit einer Volksinitiative zu äussern hat, regelmässig - und sehr zu Recht - den Grundsatz "in dubio pro populo" anruft, um ihn dann allerdings - und dies immer öfters - sogleich mit Füssen zu treten.</p><p>Die Bedeutung dieses Grundsatzes ist gemäss ständiger Rechtsprechung, dass der Text einer Initiative, wenn er mehrdeutig ist, wenn immer möglich so auszulegen ist, dass es zur Volksabstimmung kommen kann. Demnach sollten Ungültigerklärungen so weit als möglich vermieden werden, indem die für die Initiantinnen und Initianten günstigste Auslegung gesucht wird. Diese Herangehensweise ist auch ein Ausfluss des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 34 und 36 Abs. 2 und 3 BV), das gebietet, dass staatliches Handeln geringstmögliche Eingriffe in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zur Folge hat (vgl. namentlich BGE 143 I 129 E. 2.2).</p><p>Um die direkte Demokratie in ihrer Vitalität, die in den letzten Jahren zu oft zu leiden hatte, zu bewahren, ist es angezeigt, den Grundsatz "in dubio pro populo" in der Verfassung oder im Gesetz zu verankern.</p>
    • <p>In den letzten Jahren hat sich das Bundesgericht (BGer) wiederholt zur Gültigkeit verschiedener kantonaler Volksinitiativen geäussert (siehe z. B. BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?lang=de&amp;type=show_document&amp;highlight_docid=atf://143-I-129">143 I 129</a> und <a href="http://relevancy.bger.ch/php/clir/http/index.php?lang=de&amp;type=show_document&amp;page=1&amp;from_date=&amp;to_date=&amp;from_year=1954&amp;to_year=2019&amp;sort=relevance&amp;insertion_date=&amp;from_date_push=&amp;top_subcollection_clir=bge&amp;query_words=&amp;part=all&amp;de_fr=&amp;de_it=&amp;fr_de=&amp;fr_it=&amp;it_de=&amp;it_fr=&amp;orig=&amp;translation=&amp;rank=0&amp;highlight_docid=atf://138-I-131:de&amp;number_of_ranks=0&amp;azaclir=clir">138 I 131</a>). In seinen Urteilen hat es dabei immer den Grundsatz "in dubio pro populo" berücksichtigt, wonach mehrdeutige Texte im Zweifel der Volksabstimmung zu unterstellen sind. Der Grundsatz leitet sich auch aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip ab (Art. 34 und 36 Abs. 2 und 3 BV; SR 101), nach welchem ein staatlicher Eingriff die Bürgerrechte so wenig wie möglich einschränken soll (BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/fr/php/aza/http/index.php?lang=fr&amp;type=show_document&amp;highlight_docid=atf://143-I-129">143 I 129</a> E. 2.2 S. 133). Das BGer muss diesen Grundsatz jedoch gegen andere abwägen, etwa die Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht (statt vieler: BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/fr/php/aza/http/index.php?lang=fr&amp;type=show_document&amp;highlight_docid=atf://143-I-129">143 I 129</a> E. 2.3). </p><p>2018 hat das BGer zweimal eine Beschwerde gegen eine Ungültigerklärung kantonaler Volksinitiativen abgelehnt im Wesentlichen mit der Begründung, die kantonalen Instanzen seien zu Recht davon ausgegangen, der Wortlaut der Initiativen verstosse gegen übergeordnetes Recht (vgl. Urteil BGer <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza://20-08-2018-1C_76-2018&amp;lang=de&amp;type=show_document&amp;zoom=YES&amp;">1C_76/2018</a> vom 20. August 2018 zur Initiative "Kopfbedeckungsverbot an Walliser Schulen" sowie Urteil BGE <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?lang=de&amp;type=highlight_simple_query&amp;page=1&amp;from_date=&amp;to_date=&amp;sort=relevance&amp;insertion_date=&amp;top_subcollection_aza=all&amp;query_words=1C_136/2018&amp;highlight_docid=atf://145-I-167:de&amp;azaclir=aza">145 I 167</a> vom 26. November 2018 zur Initiative "Immigration libre et frontières ouvertes: Gardons nos places de travail en priorité pour nos résidents"). Dabei ist es nicht von seiner ständigen Rechtsprechung abgewichen. Vielmehr ist es bei der Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro populo" jeweils zum Schluss gelangt, dass die Volksinitiativen keinen Spielraum für eine mit dem übergeordneten Recht vereinbare Auslegung lassen. Diese Beispiele vermögen folglich die vom Motionär festgestellte Tendenz nicht zu stützen, das BGer habe in seiner jüngeren Rechtsprechung kantonale Volksinitiativen häufiger für ungültig erklärt oder stelle den Grundsatz "in dubio pro populo" in den letzten Jahren vermehrt infrage. </p><p>Nach der Auffassung des Bundesrates deutet nichts darauf hin, dass der Grundsatz "in dubio pro populo" in der Rechtsordnung ungenügend verankert wäre. Abgesehen davon, dass sich der Grundsatz bereits heute aus der Bundesverfassung ergibt, vermöchte seine spezifische Verankerung in einem Gesetz oder in der Bundesverfassung die Tragweite im Einzelfall kaum zu erhöhen. Denn auch in diesem Fall wären die Bundesbehörden jeweils gehalten zu prüfen, ob im konkreten Fall ein hinreichender Auslegungsspielraum zugunsten der Initiative besteht. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheide in Fällen wie den genannten kaum anders ausfallen würden.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion.
    • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament eine Vorlage zu unterbreiten, die den von der Rechtsprechung des Bundesgerichtes entwickelten Grundsatz "in dubio pro populo" in die Gesetzgebung einfügt.</p>
    • Die direkte Demokratie stärken. In dubio pro populo!

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