Gleiche Rechte bei der Witwen- und der Witwerrente. Das Urteil des EGMR legt eine Gesetzesänderung nahe

ShortId
20.4693
Id
20204693
Updated
28.07.2023 00:58
Language
de
Title
Gleiche Rechte bei der Witwen- und der Witwerrente. Das Urteil des EGMR legt eine Gesetzesänderung nahe
AdditionalIndexing
2836;1236;28;1211
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Beschwerde eines Mannes gutgeheissen, der in der Schweiz wohnt und dem die Witwerrente gestrichen wurde, als die jüngere Tochter volljährig wurde (Entscheid Nr. 78630/12 vom 20.10.2020, B. gegen die Schweiz). Nach dem Tod seiner Frau zog der Mann die beiden Kinder allein auf und erhielt eine Witwerrente. Diese wäre nicht aufgehoben worden, wäre der Witwer eine Frau gewesen. Der begrenzte Rentenanspruch der Witwer beruht auf dem Konzept, dass der Ehemann für den Lebensunterhalt der Ehefrau aufkommt. Die heutige gesetzliche Regelung beinhaltet also eine klare, ungerechtfertigte Diskriminierung der Männer gegenüber den Frauen. Der EGMR hält nun fest, dass dieser Ansatz den Gleichheitsgrundsatz verletzt und nicht mehr den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten entspricht. Im Falle des Todes eines der verheirateten Elternteile dürfen die Waisen nicht diskriminiert werden. Kinder, deren Mutter gestorben ist, müssen insgesamt Anspruch auf dieselbe AHV-Rente (und entsprechend auch auf die BVG-Rente) haben wie Kinder, deren Vater gestorben ist. Heute bekommen volljährige Kinder in der Ausbildung oder pflegebedürftige volljährige Kinder, deren Mutter stirbt, kumuliert nicht dieselbe Rente wie Kinder, deren Vater stirbt, da der überlebende Witwer, der für sie sorgt, keinen Anspruch auf die Witwerrente hat. Verheiratete oder geschiedene Männer, deren Ehegattin oder ehemalige Ehegattin gestorben ist, erhalten eine Witwerrente nur, solange sie Kinder unter 18 Jahren haben. Danach erlischt der Anspruch. Geschiedene Frauen hingegen haben paradoxerweise Anspruch auf eine Witwenrente, wenn die Ehe mindestens 10 Jahre gedauert hat und die Scheidung nach Vollendung des 45. Altersjahres erfolgt ist. Denn heute können geschiedene Frauen, die wirtschaftlich unabhängig sind und keine Unterhaltsbeiträge von ihrem ehemaligen Ehegatten erhalten, auch wenn sie keine Kinder haben oder volljährige Kinder in Ausbildung haben, ab dem Zeitpunkt der Verwitwung eine Witwenrente beziehen, unabhängig vom Einkommen und obschon ihnen bei der Scheidung die Hälfte des AHV- und BVG-Altersguthabens bereits ausgezahlt worden ist. Der geschiedene Ehegatte hingegen erhält beim Tod seiner ehemaligen Ehegattin keine Witwerrente. Dass geschiedene Frauen die Witwenrente erhalten, stellt eine Diskriminierung des ehemaligen Ehegatten und der Kinder dar, die sich noch in der Ausbildung befinden.</p>
  • <p>Der Bundesrat geht darin einig, dass es eine Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen für Hinterlassenenrenten braucht, die den gesellschaftlichen Veränderungen seit der Einführung der Witwen- und Waisenrente im Jahr 1948 und der Witwerrente im Jahr 1997 Rechnung trägt. Bereits in seiner Botschaft zur 11. AHV-Revision, die am 16. Mai 2004 vom Volk abgelehnt wurde (00.014 11. AHV-Revision; BBl 2000 1865), schlug der Bundesrat vor, die Anspruchsvoraussetzungen für Hinterlassenenrenten zu vereinheitlichen, indem die Regeln für Witwer an jene für Witwen angeglichen werden. In Erfüllung des Postulats "Witwen- und Witwerrenten" (08.3235) der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit wurde eine umfangreiche Studie über die wirtschaftliche Situation von Witwen und Witwern durchgeführt (Philippe Wanner und Sarah Fall, "Wirtschaftliche Lage der Witwen und Witwer", 2011, Universität Genf, Laboratoire de démographie et d'études familiales). Gestützt auf diese Studie hat der Bundesrat in seiner Botschaft zur Reform der Altersvorsorge 2020 (14.088 Reform der Altersvorsorge 2020. Reform; BBl 2015 1) verschiedene Massnahmen zu den Hinterlassenenleistungen vorgeschlagen. Diese zielen vor allem darauf ab, die Zeit der Kindererziehung besser abzusichern, indem die Witwen- und Witwerrente nur für Frauen und Männer beibehalten wird, die zum Zeitpunkt der Verwitwung für ein Kind sorgen, das Anspruch auf eine Waisenrente hat oder pflegebedürftig ist. Im Laufe der Debatten hat sich das Parlament jedoch dazu entschlossen, auf diese Massnahmen zu verzichten, da sie den Erfolg der Reform in einer Volksabstimmung gefährden könnten.</p><p>Bei der Reformvorlage AHV 21 wollte der Bundesrat die Diskussion auf die wesentlichen, dringlichen Elemente zur Sicherung des finanziellen Gleichgewichts der AHV konzentrieren, weshalb er die Massnahmen zu den Hinterlassenenrenten nicht aufgegriffen hat (19.050 Botschaft zur Stabilisierung der AHV [AHV 21], BBl 2019 6305). Die Botschaft wird derzeit im Parlament behandelt.</p><p>Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 20. Oktober 2020 i.S. B. gegen die Schweiz ist noch nicht rechtskräftig. Nach Ansicht des Bundesrates sind die Hinterlassenenleistungen im Rahmen einer künftigen Revision oder einer separaten Vorlage als Gesamtsystem (Witwen-, Witwer- und Waisenrenten) zu überprüfen; sich wie von der Motion gefordert auf eine nur Witwern vorbehaltene Änderung zu konzentrieren erachtet er nicht als zielführend. Zudem beantragt der Bundesrat die Annahme des Postulats 20.4449 Feri "Ungleichbehandlung von Witwen und Witwer beheben". Darin wird ein Bericht dazu verlangt, wie die Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern in der AHV und der Unfallversicherung behoben werden kann.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion.
  • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) zu ändern, damit die Waisen und der überlebende verheiratete Elternteil, ob Frau oder Mann, nicht diskriminiert werden. Es ist vorzusehen, dass:</p><p>1. alle volljährigen Waisen in Ausbildung und alle volljährigen pflegebedürftigen Waisen Anspruch darauf haben, dass der überlebende Elternteil, der für sie sorgt, egal ob verheiratet oder geschieden und egal ob Vater oder Mutter, die Witwer- oder Witwenrente erhält;</p><p>2. die geschiedenen überlebenden Ehegattinnen oder Ehegatten (Mütter oder Väter) ohne Kinder in Ausbildung und ohne pflegebedürftige Personen, für die sie sorgen müssen, nur dann Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben, wenn im rechtskräftigen Scheidungsurteil Unterhaltsbeiträge für sie vorgesehen sind. Die Witwen- oder Witwerrente (AHV und berufliche Vorsorge zusammen) kann höchstens den im Scheidungsurteil festgelegten Unterhaltsbeitrag betragen, der vom verstorbenen ehemaligen Ehegatten oder der verstorbenen ehemaligen Ehegattin (Vater oder Mutter) geschuldet war. Der Anspruch auf die Rente erlischt mit dem Anspruch auf den Unterhaltsbeitrag.</p>
  • Gleiche Rechte bei der Witwen- und der Witwerrente. Das Urteil des EGMR legt eine Gesetzesänderung nahe
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Beschwerde eines Mannes gutgeheissen, der in der Schweiz wohnt und dem die Witwerrente gestrichen wurde, als die jüngere Tochter volljährig wurde (Entscheid Nr. 78630/12 vom 20.10.2020, B. gegen die Schweiz). Nach dem Tod seiner Frau zog der Mann die beiden Kinder allein auf und erhielt eine Witwerrente. Diese wäre nicht aufgehoben worden, wäre der Witwer eine Frau gewesen. Der begrenzte Rentenanspruch der Witwer beruht auf dem Konzept, dass der Ehemann für den Lebensunterhalt der Ehefrau aufkommt. Die heutige gesetzliche Regelung beinhaltet also eine klare, ungerechtfertigte Diskriminierung der Männer gegenüber den Frauen. Der EGMR hält nun fest, dass dieser Ansatz den Gleichheitsgrundsatz verletzt und nicht mehr den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten entspricht. Im Falle des Todes eines der verheirateten Elternteile dürfen die Waisen nicht diskriminiert werden. Kinder, deren Mutter gestorben ist, müssen insgesamt Anspruch auf dieselbe AHV-Rente (und entsprechend auch auf die BVG-Rente) haben wie Kinder, deren Vater gestorben ist. Heute bekommen volljährige Kinder in der Ausbildung oder pflegebedürftige volljährige Kinder, deren Mutter stirbt, kumuliert nicht dieselbe Rente wie Kinder, deren Vater stirbt, da der überlebende Witwer, der für sie sorgt, keinen Anspruch auf die Witwerrente hat. Verheiratete oder geschiedene Männer, deren Ehegattin oder ehemalige Ehegattin gestorben ist, erhalten eine Witwerrente nur, solange sie Kinder unter 18 Jahren haben. Danach erlischt der Anspruch. Geschiedene Frauen hingegen haben paradoxerweise Anspruch auf eine Witwenrente, wenn die Ehe mindestens 10 Jahre gedauert hat und die Scheidung nach Vollendung des 45. Altersjahres erfolgt ist. Denn heute können geschiedene Frauen, die wirtschaftlich unabhängig sind und keine Unterhaltsbeiträge von ihrem ehemaligen Ehegatten erhalten, auch wenn sie keine Kinder haben oder volljährige Kinder in Ausbildung haben, ab dem Zeitpunkt der Verwitwung eine Witwenrente beziehen, unabhängig vom Einkommen und obschon ihnen bei der Scheidung die Hälfte des AHV- und BVG-Altersguthabens bereits ausgezahlt worden ist. Der geschiedene Ehegatte hingegen erhält beim Tod seiner ehemaligen Ehegattin keine Witwerrente. Dass geschiedene Frauen die Witwenrente erhalten, stellt eine Diskriminierung des ehemaligen Ehegatten und der Kinder dar, die sich noch in der Ausbildung befinden.</p>
    • <p>Der Bundesrat geht darin einig, dass es eine Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen für Hinterlassenenrenten braucht, die den gesellschaftlichen Veränderungen seit der Einführung der Witwen- und Waisenrente im Jahr 1948 und der Witwerrente im Jahr 1997 Rechnung trägt. Bereits in seiner Botschaft zur 11. AHV-Revision, die am 16. Mai 2004 vom Volk abgelehnt wurde (00.014 11. AHV-Revision; BBl 2000 1865), schlug der Bundesrat vor, die Anspruchsvoraussetzungen für Hinterlassenenrenten zu vereinheitlichen, indem die Regeln für Witwer an jene für Witwen angeglichen werden. In Erfüllung des Postulats "Witwen- und Witwerrenten" (08.3235) der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit wurde eine umfangreiche Studie über die wirtschaftliche Situation von Witwen und Witwern durchgeführt (Philippe Wanner und Sarah Fall, "Wirtschaftliche Lage der Witwen und Witwer", 2011, Universität Genf, Laboratoire de démographie et d'études familiales). Gestützt auf diese Studie hat der Bundesrat in seiner Botschaft zur Reform der Altersvorsorge 2020 (14.088 Reform der Altersvorsorge 2020. Reform; BBl 2015 1) verschiedene Massnahmen zu den Hinterlassenenleistungen vorgeschlagen. Diese zielen vor allem darauf ab, die Zeit der Kindererziehung besser abzusichern, indem die Witwen- und Witwerrente nur für Frauen und Männer beibehalten wird, die zum Zeitpunkt der Verwitwung für ein Kind sorgen, das Anspruch auf eine Waisenrente hat oder pflegebedürftig ist. Im Laufe der Debatten hat sich das Parlament jedoch dazu entschlossen, auf diese Massnahmen zu verzichten, da sie den Erfolg der Reform in einer Volksabstimmung gefährden könnten.</p><p>Bei der Reformvorlage AHV 21 wollte der Bundesrat die Diskussion auf die wesentlichen, dringlichen Elemente zur Sicherung des finanziellen Gleichgewichts der AHV konzentrieren, weshalb er die Massnahmen zu den Hinterlassenenrenten nicht aufgegriffen hat (19.050 Botschaft zur Stabilisierung der AHV [AHV 21], BBl 2019 6305). Die Botschaft wird derzeit im Parlament behandelt.</p><p>Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 20. Oktober 2020 i.S. B. gegen die Schweiz ist noch nicht rechtskräftig. Nach Ansicht des Bundesrates sind die Hinterlassenenleistungen im Rahmen einer künftigen Revision oder einer separaten Vorlage als Gesamtsystem (Witwen-, Witwer- und Waisenrenten) zu überprüfen; sich wie von der Motion gefordert auf eine nur Witwern vorbehaltene Änderung zu konzentrieren erachtet er nicht als zielführend. Zudem beantragt der Bundesrat die Annahme des Postulats 20.4449 Feri "Ungleichbehandlung von Witwen und Witwer beheben". Darin wird ein Bericht dazu verlangt, wie die Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern in der AHV und der Unfallversicherung behoben werden kann.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion.
    • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) zu ändern, damit die Waisen und der überlebende verheiratete Elternteil, ob Frau oder Mann, nicht diskriminiert werden. Es ist vorzusehen, dass:</p><p>1. alle volljährigen Waisen in Ausbildung und alle volljährigen pflegebedürftigen Waisen Anspruch darauf haben, dass der überlebende Elternteil, der für sie sorgt, egal ob verheiratet oder geschieden und egal ob Vater oder Mutter, die Witwer- oder Witwenrente erhält;</p><p>2. die geschiedenen überlebenden Ehegattinnen oder Ehegatten (Mütter oder Väter) ohne Kinder in Ausbildung und ohne pflegebedürftige Personen, für die sie sorgen müssen, nur dann Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben, wenn im rechtskräftigen Scheidungsurteil Unterhaltsbeiträge für sie vorgesehen sind. Die Witwen- oder Witwerrente (AHV und berufliche Vorsorge zusammen) kann höchstens den im Scheidungsurteil festgelegten Unterhaltsbeitrag betragen, der vom verstorbenen ehemaligen Ehegatten oder der verstorbenen ehemaligen Ehegattin (Vater oder Mutter) geschuldet war. Der Anspruch auf die Rente erlischt mit dem Anspruch auf den Unterhaltsbeitrag.</p>
    • Gleiche Rechte bei der Witwen- und der Witwerrente. Das Urteil des EGMR legt eine Gesetzesänderung nahe

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