Dynamische Rechtsübernahme geht viel weiter als autonomer Nachvollzug von EU-Recht

ShortId
20.4701
Id
20204701
Updated
28.07.2023 00:53
Language
de
Title
Dynamische Rechtsübernahme geht viel weiter als autonomer Nachvollzug von EU-Recht
AdditionalIndexing
10;04;15;1231
1
PriorityCouncil1
Nationalrat
Texts
  • <p>In einem Beitrag in der NZZ vom 13. November 2020 wurde ausgeführt, bei autonomem Nachvollzug von EU-Recht sei die Autonomie der Schweiz "faktisch gering", der Unterschied zur dynamischen Rechtsübernahme darum "nicht so gross" wie behauptet. Es wird der Eindruck erweckt, es würde sich mit der dynamischen Rechtsübernahme gemäss Rahmenabkommen gegenüber der heutigen Politik des autonomen Nachvollzugs kaum etwas ändern.</p>
  • <p>1.-2. Im Rahmen der bilateralen Abkommen harmonisiert die Schweiz in ausgewählten Sektoren ihre rechtlichen Vorschriften mit jenen der EU. Dies ermöglicht die sektorielle Teilnahme der Schweiz am Binnenmarkt der EU. Die Berücksichtigung neuer EU-Bestimmungen in den jeweiligen Abkommen erfolgt im Einvernehmen zwischen der Schweiz und der EU. In Bereichen, in welchen die Schweiz keine bilateralen Abkommen mit der EU geschlossen hat, kann die Schweiz frei entscheiden, ob sie Regelungen der EU in ihre innerstaatliche Rechtsordnung übernimmt (sog. "autonomer Nachvollzug"). Der "autonome Nachvollzug" ist im Interesse der Schweizer Wirtschaft, denn er erlaubt es, die regulatorischen Abweichungen gegenüber dem wichtigsten Handelspartner zu minimieren und so die Wettbewerbsfähigkeit und die Attraktivität des Schweizer Wirtschaftsstandorts zu bewahren. Anders als die bilateralen Abkommen garantiert der "autonome Nachvollzug" jedoch keinen Zugang zum EU-Binnenmarkt, da er von der EU nicht anerkannt wird. Bei der Wahl zwischen diesen beiden Ansätzen orientiert sich die Schweiz am Landesinteresse und nimmt eine gründliche Interessenabwägung vor.</p><p>Das institutionelle Abkommen würde es ermöglichen, die sektorielle Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt zu festigen, und zwar insbesondere durch eine dynamische Übernahme des einschlägigen EU-Rechts. Die Aktualisierung der Marktzugangsabkommen wäre daher im Prinzip verbindlich. Auf diese Weise können neue Marktzugangshindernisse - selbst solche vorübergehender Natur - vermieden und gleichzeitig die Rechtsetzungsautonomie der Schweiz und die direkte Demokratie gewahrt werden. Genau wie heute wird die Schweiz nämlich eigenständig über jede Übernahme von EU-Rechtsentwicklungen entscheiden. Sie kann also auch beschliessen, eine bestimmte Rechtsentwicklung nicht zu übernehmen. Die allfälligen Ausgleichsmassnahmen, die die EU in einem solchen Fall beschliessen kann, müssen verhältnismässig sein.</p><p>3. Es ist nicht möglich, den Anteil des ganz oder teilweise in das Schweizer Recht übernommenen EU-Rechts genau zu bestimmen. Es gibt keine Liste der Bundesgesetze, die auf EU-Recht basieren. Das institutionelle Abkommen würde daran nichts ändern, denn die fünf Marktzugangsabkommen übernehmen bereits heute EU-Recht.</p><p>4.-7. Im Bereich des Datenschutzes und der Finanzdienstleistungen verfügt die EU über ein System zur Anerkennung der Gleichwertigkeit der Gesetzgebung eines Drittstaats. Eine solche einseitige Anerkennung ermöglicht einen beschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Sie fällt jedoch in die alleinige Zuständigkeit der EU und kann jederzeit widerrufen werden, auch aus politischen Überlegungen. In diesem Zusammenhang ist eine exakte Übernahme des EU-Rechts nicht unbedingt erforderlich, da die EU eine Gesamtbewertung der Situation vornimmt. Dies erklärt, warum das Schweizer Recht in den beiden vorerwähnten Bereichen die gleichen Ziele verfolgt wie das EU-Recht, ohne dass es notwendigerweise identisch formuliert ist. Die angestrebte Äquivalenzanerkennung setzt möglichen Abweichungen jedoch klare Grenzen.</p><p>Im Lebensmittelbereich hat die Schweiz ihre technischen Vorschriften autonom an jene der EU angeglichen. Dies erleichtert u.a. den Warenaustausch und vermeidet ein Gefälle im jeweiligen Schutzniveau. Nur in einigen wenigen Bereichen (wie bspw. bei der obligatorischen Angabe des Produktionslandes oder bei der Angabe der Herkunft von Zutaten) hat das Schweizer Parlament eine von der EU abweichende Lösung gewählt.</p><p>8. Mit dem institutionellen Abkommen müssten die Schweizer Gerichte in den Sektoren, in denen sie am EU-Binnenmarkt teilnimmt und folglich ihr Recht mit demjenigen der EU harmonisiert hat, die Rechtsauslegung des EuGH beachten. Die Zuständigkeit für die Auslegung des anwendbaren EU-Rechts im Binnenmarkt liegt tatsächlich beim EuGH. Beim "autonomen Nachvollzug" von EU-Recht ist die Schweiz grundsätzlich nicht verpflichtet, die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist eine einheitliche Auslegung aber auch in diesem Rahmen notwendig (vgl. BGE 129 III 335, E. 6). Danach ist auch in Bereichen, in denen die Schweiz ihr Recht autonom mit dem EU-Recht angeglichen hat, im Zweifel im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH auszulegen. So können unnötige Abweichungen vermieden werden.</p> Antwort des Bundesrates.
  • <p>1. Bestätigt der Bundesrat, dass ein autonomer Nachvollzug erfolgt, "wo wirtschaftliche Interessen [der Schweiz] dies erfordern oder rechtfertigen" (Bundesrat, BBl 2010, S. 7288), nicht aber, wenn die EU-Regeln "materiell nicht überzeugen" (Bundesrat, BBl 2017, S. 470), während die Schweiz gemäss Entwurf zum EU-Rahmenabkommen ("Rahmenabkommen") EU-Recht übernehmen muss, auch wenn es den schweizerischen Interessen nicht dient oder materiell nicht überzeugt?</p><p>2. Bestätigt der Bundesrat, dass die Schweiz gemäss Rahmenabkommen von der EU sanktioniert werden kann, wenn sie EU-Recht nicht übernimmt, während sie keine Nachteile bzw. nur die Nachteile der fehlenden Äquivalenz zu tragen hat, wenn sie EU-Recht nicht autonom nachvollzieht?</p><p>3. Bestätigt der Bundesrat, dass zwar 30-50 Prozent des Bundesrechts durch EU-Recht beeinflusst sind, die mehr oder weniger unveränderte Übernahme von EU-Recht jedoch nur etwa 15 Prozent des Bundesrechts ausmacht und die EU somit heute keinen bestimmenden Einfluss auf das schweizerische Recht hat?</p><p>4. Bestätigt der Bundesrat, dass das neue Datenschutzgesetz zahlreiche, auch bedeutsame Abweichungen gegenüber dem EU-Recht enthält (z.B. betreffend die Höhe der Bussen), obwohl es diesem zwecks Äquivalenz angeglichen wurde?</p><p>5. Bestätigt der Bundesrat, dass das neue Finanzdienstleistungsgesetz zahlreiche, auch bedeutsame Abweichungen gegenüber dem EU-Recht enthält (z.B. betreffend Anforderungen an die Anlageberatung), obwohl es diesem zwecks Äquivalenz angeglichen wurde?</p><p>6. Bestätigt der Bundesrat, dass das Lebensmittelgesetz von 2014 zahlreiche, auch bedeutsame Abweichungen gegenüber dem EU-Recht enthält (z.B. betreffend Angabe der Herkunft von Zutaten), obwohl es diesem angeglichen wurde?</p><p>7. Bestätigt der Bundesrat, dass die Schweiz beim autonomen Nachvollzug in den genannten Bereichen mehr Spielraum hatte, als sie es bei einer Pflicht zur Rechtsübernahme gehabt hätte, und dass dies allgemein gilt?</p><p>8. Bestätigt der Bundesrat, dass die Schweizer Gerichte bei der Auslegung von autonom nachvollzogenem EU-Recht nicht strikt an die Rechtsprechung des EuGH gebunden sind, während sie es bei der Auslegung der bilateralen Verträge und bei "dynamisch übernommenem" EU-Recht im Prinzip sind, sodass der Einfluss des EuGH auf die Schweizer Rechtsordnung im Fall einer dynamischen Rechtsübernahme grösser ist als bei einem autonomen Nachvollzug?</p>
  • Dynamische Rechtsübernahme geht viel weiter als autonomer Nachvollzug von EU-Recht
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>In einem Beitrag in der NZZ vom 13. November 2020 wurde ausgeführt, bei autonomem Nachvollzug von EU-Recht sei die Autonomie der Schweiz "faktisch gering", der Unterschied zur dynamischen Rechtsübernahme darum "nicht so gross" wie behauptet. Es wird der Eindruck erweckt, es würde sich mit der dynamischen Rechtsübernahme gemäss Rahmenabkommen gegenüber der heutigen Politik des autonomen Nachvollzugs kaum etwas ändern.</p>
    • <p>1.-2. Im Rahmen der bilateralen Abkommen harmonisiert die Schweiz in ausgewählten Sektoren ihre rechtlichen Vorschriften mit jenen der EU. Dies ermöglicht die sektorielle Teilnahme der Schweiz am Binnenmarkt der EU. Die Berücksichtigung neuer EU-Bestimmungen in den jeweiligen Abkommen erfolgt im Einvernehmen zwischen der Schweiz und der EU. In Bereichen, in welchen die Schweiz keine bilateralen Abkommen mit der EU geschlossen hat, kann die Schweiz frei entscheiden, ob sie Regelungen der EU in ihre innerstaatliche Rechtsordnung übernimmt (sog. "autonomer Nachvollzug"). Der "autonome Nachvollzug" ist im Interesse der Schweizer Wirtschaft, denn er erlaubt es, die regulatorischen Abweichungen gegenüber dem wichtigsten Handelspartner zu minimieren und so die Wettbewerbsfähigkeit und die Attraktivität des Schweizer Wirtschaftsstandorts zu bewahren. Anders als die bilateralen Abkommen garantiert der "autonome Nachvollzug" jedoch keinen Zugang zum EU-Binnenmarkt, da er von der EU nicht anerkannt wird. Bei der Wahl zwischen diesen beiden Ansätzen orientiert sich die Schweiz am Landesinteresse und nimmt eine gründliche Interessenabwägung vor.</p><p>Das institutionelle Abkommen würde es ermöglichen, die sektorielle Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt zu festigen, und zwar insbesondere durch eine dynamische Übernahme des einschlägigen EU-Rechts. Die Aktualisierung der Marktzugangsabkommen wäre daher im Prinzip verbindlich. Auf diese Weise können neue Marktzugangshindernisse - selbst solche vorübergehender Natur - vermieden und gleichzeitig die Rechtsetzungsautonomie der Schweiz und die direkte Demokratie gewahrt werden. Genau wie heute wird die Schweiz nämlich eigenständig über jede Übernahme von EU-Rechtsentwicklungen entscheiden. Sie kann also auch beschliessen, eine bestimmte Rechtsentwicklung nicht zu übernehmen. Die allfälligen Ausgleichsmassnahmen, die die EU in einem solchen Fall beschliessen kann, müssen verhältnismässig sein.</p><p>3. Es ist nicht möglich, den Anteil des ganz oder teilweise in das Schweizer Recht übernommenen EU-Rechts genau zu bestimmen. Es gibt keine Liste der Bundesgesetze, die auf EU-Recht basieren. Das institutionelle Abkommen würde daran nichts ändern, denn die fünf Marktzugangsabkommen übernehmen bereits heute EU-Recht.</p><p>4.-7. Im Bereich des Datenschutzes und der Finanzdienstleistungen verfügt die EU über ein System zur Anerkennung der Gleichwertigkeit der Gesetzgebung eines Drittstaats. Eine solche einseitige Anerkennung ermöglicht einen beschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Sie fällt jedoch in die alleinige Zuständigkeit der EU und kann jederzeit widerrufen werden, auch aus politischen Überlegungen. In diesem Zusammenhang ist eine exakte Übernahme des EU-Rechts nicht unbedingt erforderlich, da die EU eine Gesamtbewertung der Situation vornimmt. Dies erklärt, warum das Schweizer Recht in den beiden vorerwähnten Bereichen die gleichen Ziele verfolgt wie das EU-Recht, ohne dass es notwendigerweise identisch formuliert ist. Die angestrebte Äquivalenzanerkennung setzt möglichen Abweichungen jedoch klare Grenzen.</p><p>Im Lebensmittelbereich hat die Schweiz ihre technischen Vorschriften autonom an jene der EU angeglichen. Dies erleichtert u.a. den Warenaustausch und vermeidet ein Gefälle im jeweiligen Schutzniveau. Nur in einigen wenigen Bereichen (wie bspw. bei der obligatorischen Angabe des Produktionslandes oder bei der Angabe der Herkunft von Zutaten) hat das Schweizer Parlament eine von der EU abweichende Lösung gewählt.</p><p>8. Mit dem institutionellen Abkommen müssten die Schweizer Gerichte in den Sektoren, in denen sie am EU-Binnenmarkt teilnimmt und folglich ihr Recht mit demjenigen der EU harmonisiert hat, die Rechtsauslegung des EuGH beachten. Die Zuständigkeit für die Auslegung des anwendbaren EU-Rechts im Binnenmarkt liegt tatsächlich beim EuGH. Beim "autonomen Nachvollzug" von EU-Recht ist die Schweiz grundsätzlich nicht verpflichtet, die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist eine einheitliche Auslegung aber auch in diesem Rahmen notwendig (vgl. BGE 129 III 335, E. 6). Danach ist auch in Bereichen, in denen die Schweiz ihr Recht autonom mit dem EU-Recht angeglichen hat, im Zweifel im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH auszulegen. So können unnötige Abweichungen vermieden werden.</p> Antwort des Bundesrates.
    • <p>1. Bestätigt der Bundesrat, dass ein autonomer Nachvollzug erfolgt, "wo wirtschaftliche Interessen [der Schweiz] dies erfordern oder rechtfertigen" (Bundesrat, BBl 2010, S. 7288), nicht aber, wenn die EU-Regeln "materiell nicht überzeugen" (Bundesrat, BBl 2017, S. 470), während die Schweiz gemäss Entwurf zum EU-Rahmenabkommen ("Rahmenabkommen") EU-Recht übernehmen muss, auch wenn es den schweizerischen Interessen nicht dient oder materiell nicht überzeugt?</p><p>2. Bestätigt der Bundesrat, dass die Schweiz gemäss Rahmenabkommen von der EU sanktioniert werden kann, wenn sie EU-Recht nicht übernimmt, während sie keine Nachteile bzw. nur die Nachteile der fehlenden Äquivalenz zu tragen hat, wenn sie EU-Recht nicht autonom nachvollzieht?</p><p>3. Bestätigt der Bundesrat, dass zwar 30-50 Prozent des Bundesrechts durch EU-Recht beeinflusst sind, die mehr oder weniger unveränderte Übernahme von EU-Recht jedoch nur etwa 15 Prozent des Bundesrechts ausmacht und die EU somit heute keinen bestimmenden Einfluss auf das schweizerische Recht hat?</p><p>4. Bestätigt der Bundesrat, dass das neue Datenschutzgesetz zahlreiche, auch bedeutsame Abweichungen gegenüber dem EU-Recht enthält (z.B. betreffend die Höhe der Bussen), obwohl es diesem zwecks Äquivalenz angeglichen wurde?</p><p>5. Bestätigt der Bundesrat, dass das neue Finanzdienstleistungsgesetz zahlreiche, auch bedeutsame Abweichungen gegenüber dem EU-Recht enthält (z.B. betreffend Anforderungen an die Anlageberatung), obwohl es diesem zwecks Äquivalenz angeglichen wurde?</p><p>6. Bestätigt der Bundesrat, dass das Lebensmittelgesetz von 2014 zahlreiche, auch bedeutsame Abweichungen gegenüber dem EU-Recht enthält (z.B. betreffend Angabe der Herkunft von Zutaten), obwohl es diesem angeglichen wurde?</p><p>7. Bestätigt der Bundesrat, dass die Schweiz beim autonomen Nachvollzug in den genannten Bereichen mehr Spielraum hatte, als sie es bei einer Pflicht zur Rechtsübernahme gehabt hätte, und dass dies allgemein gilt?</p><p>8. Bestätigt der Bundesrat, dass die Schweizer Gerichte bei der Auslegung von autonom nachvollzogenem EU-Recht nicht strikt an die Rechtsprechung des EuGH gebunden sind, während sie es bei der Auslegung der bilateralen Verträge und bei "dynamisch übernommenem" EU-Recht im Prinzip sind, sodass der Einfluss des EuGH auf die Schweizer Rechtsordnung im Fall einer dynamischen Rechtsübernahme grösser ist als bei einem autonomen Nachvollzug?</p>
    • Dynamische Rechtsübernahme geht viel weiter als autonomer Nachvollzug von EU-Recht

Back to List