Untersuchungsgrundsatz wahren. Keine Beweislastumkehr im Kartellgesetz

ShortId
21.4189
Id
20214189
Updated
28.07.2023 14:15
Language
de
Title
Untersuchungsgrundsatz wahren. Keine Beweislastumkehr im Kartellgesetz
AdditionalIndexing
15
1
PriorityCouncil1
Ständerat
Texts
  • <p>Im schweizerischen Kartellverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz: Die Wettbewerbsbehörde hat die hoheitliche Aufgabe, sowohl belastende als auch entlastende Tatsachen zu untersuchen und sie gegeneinander abzuwägen. Die Behörde darf sich nicht auf die Abklärung belastender Umstände beschränken, sondern muss auch die entlastenden Umstände von sich aus eruieren. Dies gilt sowohl für Fälle unter Artikel 4, 5 und 7 des Kartellgesetzes, da es sich hierbei um eine strafrechtliche Anklage gemäss Artikel 6 EMRK handelt. Entsprechend gilt auch die Unschuldsvermutung gemäss Artikel 32 Absatz 1 BV und Artikel 6 Absatz 2 EMRK. Als Massstab für die Erfüllung des Tatbestands gilt der Grundsatz "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen". Gemäss der angestammten Praxis des Kartellrechts, aber auch ihrer Einbettung in der Bundesverfassung und der EMRK hat die Wettbewerbsbehörde folglich den vollen Beweis zu erbringen. Die Wettbewerbsbehörde verletzt diesen Grundsatz und mit ihm die Unschuldsvermutung in krasser Weise.</p><p>Sie führte etwa den Begriff der Gesamtabrede ein, obwohl das Kartellgesetz ihn nicht vorsieht. Stattdessen übernimmt sie eine Rechtsfigur aus dem Europäischen Recht und weitet ihren Anwendungsbereich massiv aus: Nach der Figur der Gesamtabrede muss die Wettbewerbskommission nicht mehr beweisen, dass sich ein Unternehmen an einer Absprache beteiligt hat, sondern Eindrücke reichen dafür aus. Ein Unternehmen wird pauschal verurteilt, anstatt dass die Wettbewerbsbehörde nachweist, dass es tatsächlich der Volkswirtschaft geschadet hat. Das hat mit "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen" nichts zu tun und schliesst entlastende Fakten von der Untersuchung von vorne herein aus.</p><p>Ein anderes Beispiel für die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes ist die Weigerung der Wettbewerbsbehörde, Rechtfertigungen aus Effizienzgründen von sich aus zu untersuchen. Noch in einem Aufsatz aus dem Jahr 2013 stellte der jetzige Präsident der Behörde fest: "Die Weko hat nicht nur den Tatbestand des Teilkartellverbots zu beweisen, sondern ist nach dem Untersuchungsgrundsatz auch dazu verpflichtet, die Fakten zu ermitteln, die für die Effizienzrechtfertigung relevant sind, wobei die Parteien eine Mitwirkungspflicht trifft." Genau das tut die Behörde in ihrer jetzigen Handhabung von Fällen nicht mehr. Auch hier verletzt sie den Untersuchungsgrundsatz.</p>
  • <p>Die vom Motionär kritisierten Lücken im Kartellgesetz (KG, SR 251) und Missstände beim Gesetzesvollzug sind aus Sicht des Bundesrats nicht gegeben. Das KG und das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG, SR 172.021) schreiben vor, dass jeder Sachverhalt von Amtes wegen zu untersuchen ist. Die Wettbewerbsbehörden sind verpflichtet, den Sachverhalt aus eigener Initiative richtig und vollständig abzuklären (Beweisführungspflicht). Dies gilt für jede Form von Wettbewerbsbeschränkungen, also auch für sog. Gesamtabreden; ebenso für belastende und entlastende Umstände wie z. B. Rechtfertigungsgründe gemäss Artikel 5 Absatz 2 KG. Der Untersuchungsgrundsatz ist somit bereits im geltenden Recht verankert und unbestritten.</p><p>Von der Beweisführungspflicht zu unterscheiden ist die objektive Beweislast. Diese bestimmt, wer die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat. In kartellrechtlichen Sanktionsverfahren gilt die Unschuldsvermutung, die in der Bundesverfassung (BV) und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert ist. Danach ist es Sache der zuständigen Behörde, die Schuld der Angeklagten bzw. des Angeklagten zu beweisen. Bereits nach geltendem Kartellrecht liegt die Beweislast ausnahmslos und unbestritten bei den Wettbewerbsbehörden. Können diese den Nachweis nicht erbringen, dass ein Unternehmen gegen das KG verstossen hat, darf es nicht sanktioniert werden ("in dubio pro reo"). Dies gilt für sämtliche Tatbestandsmerkmale, also auch für das Vorliegen von harten Abreden nach Artikel 5 Absätze 3 und 4 KG, obwohl das Gesetz dort eine Vermutung zu Lasten der Unternehmen aufstellt. Eine Verschiebung der Beweislast auf die betroffenen Unternehmen ist im KG folglich nirgends vorgesehen.</p><p>Für den Nachweis von Verstössen gegen das KG gelten die gleichen Anforderungen wie allgemein im Straf- und Verwaltungsrecht: Eine Behörde darf eine Tatsache grundsätzlich nur dann als gegeben erachten, wenn sie an deren Vorhandensein keine unüberwindlichen oder - gemäss Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) - keine vernünftigen Zweifel hegt. Gemäss Rechtsprechung der Gerichte sind die Beweisanforderungen reduziert, wenn objektiv kein strikter Beweis möglich ist (etwa im Falle der Beurteilung künftiger oder alternativer Marktentwicklungen). Entgegen der in der Begründung der Motion enthaltenen Ausführungen genügen blosse "Eindrücke" jedoch unter keinen Umständen; "pauschale Verurteilungen" sind nicht zulässig.</p><p>Die genannten Grundsätze gelten auch für "Gesamtabreden". Bei diesen handelt es sich im Übrigen weder um eine Erfindung der WEKO noch um einen Import aus dem EU-Recht. Vielmehr sind auch sie nach den Regeln von Artikel 4 und 5 KG ("unzulässige Wettbewerbsabreden") zu beurteilen.</p><p>Sollte ein Entscheid der WEKO im Einzelfall tatsächlich die zuvor skizzierten Regeln verletzen, würden die Gerichte die WEKO korrigieren. Die in der Motion erwähnten krassen Verletzungen der genannten Grundsätze durch die WEKO sind in der Rechtsprechung der Gerichte nicht ersichtlich.</p><p>Im Ergebnis erfüllt somit bereits das geltende Kartellrecht die von der Motion geforderten Anforderungen an die Unschuldsvermutung. Eine Gesetzesrevision ist nicht notwendig.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion.
  • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, das Kartellgesetz so zu präzisieren, dass die verfassungsmässige Unschuldsvermutung auch dort Anwendung findet. Das hat insbesondere durch die Stärkung des Untersuchungsgrundsatzes zu erfolgen.</p>
  • Untersuchungsgrundsatz wahren. Keine Beweislastumkehr im Kartellgesetz
State
Überwiesen an den Bundesrat
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>Im schweizerischen Kartellverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz: Die Wettbewerbsbehörde hat die hoheitliche Aufgabe, sowohl belastende als auch entlastende Tatsachen zu untersuchen und sie gegeneinander abzuwägen. Die Behörde darf sich nicht auf die Abklärung belastender Umstände beschränken, sondern muss auch die entlastenden Umstände von sich aus eruieren. Dies gilt sowohl für Fälle unter Artikel 4, 5 und 7 des Kartellgesetzes, da es sich hierbei um eine strafrechtliche Anklage gemäss Artikel 6 EMRK handelt. Entsprechend gilt auch die Unschuldsvermutung gemäss Artikel 32 Absatz 1 BV und Artikel 6 Absatz 2 EMRK. Als Massstab für die Erfüllung des Tatbestands gilt der Grundsatz "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen". Gemäss der angestammten Praxis des Kartellrechts, aber auch ihrer Einbettung in der Bundesverfassung und der EMRK hat die Wettbewerbsbehörde folglich den vollen Beweis zu erbringen. Die Wettbewerbsbehörde verletzt diesen Grundsatz und mit ihm die Unschuldsvermutung in krasser Weise.</p><p>Sie führte etwa den Begriff der Gesamtabrede ein, obwohl das Kartellgesetz ihn nicht vorsieht. Stattdessen übernimmt sie eine Rechtsfigur aus dem Europäischen Recht und weitet ihren Anwendungsbereich massiv aus: Nach der Figur der Gesamtabrede muss die Wettbewerbskommission nicht mehr beweisen, dass sich ein Unternehmen an einer Absprache beteiligt hat, sondern Eindrücke reichen dafür aus. Ein Unternehmen wird pauschal verurteilt, anstatt dass die Wettbewerbsbehörde nachweist, dass es tatsächlich der Volkswirtschaft geschadet hat. Das hat mit "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen" nichts zu tun und schliesst entlastende Fakten von der Untersuchung von vorne herein aus.</p><p>Ein anderes Beispiel für die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes ist die Weigerung der Wettbewerbsbehörde, Rechtfertigungen aus Effizienzgründen von sich aus zu untersuchen. Noch in einem Aufsatz aus dem Jahr 2013 stellte der jetzige Präsident der Behörde fest: "Die Weko hat nicht nur den Tatbestand des Teilkartellverbots zu beweisen, sondern ist nach dem Untersuchungsgrundsatz auch dazu verpflichtet, die Fakten zu ermitteln, die für die Effizienzrechtfertigung relevant sind, wobei die Parteien eine Mitwirkungspflicht trifft." Genau das tut die Behörde in ihrer jetzigen Handhabung von Fällen nicht mehr. Auch hier verletzt sie den Untersuchungsgrundsatz.</p>
    • <p>Die vom Motionär kritisierten Lücken im Kartellgesetz (KG, SR 251) und Missstände beim Gesetzesvollzug sind aus Sicht des Bundesrats nicht gegeben. Das KG und das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG, SR 172.021) schreiben vor, dass jeder Sachverhalt von Amtes wegen zu untersuchen ist. Die Wettbewerbsbehörden sind verpflichtet, den Sachverhalt aus eigener Initiative richtig und vollständig abzuklären (Beweisführungspflicht). Dies gilt für jede Form von Wettbewerbsbeschränkungen, also auch für sog. Gesamtabreden; ebenso für belastende und entlastende Umstände wie z. B. Rechtfertigungsgründe gemäss Artikel 5 Absatz 2 KG. Der Untersuchungsgrundsatz ist somit bereits im geltenden Recht verankert und unbestritten.</p><p>Von der Beweisführungspflicht zu unterscheiden ist die objektive Beweislast. Diese bestimmt, wer die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat. In kartellrechtlichen Sanktionsverfahren gilt die Unschuldsvermutung, die in der Bundesverfassung (BV) und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert ist. Danach ist es Sache der zuständigen Behörde, die Schuld der Angeklagten bzw. des Angeklagten zu beweisen. Bereits nach geltendem Kartellrecht liegt die Beweislast ausnahmslos und unbestritten bei den Wettbewerbsbehörden. Können diese den Nachweis nicht erbringen, dass ein Unternehmen gegen das KG verstossen hat, darf es nicht sanktioniert werden ("in dubio pro reo"). Dies gilt für sämtliche Tatbestandsmerkmale, also auch für das Vorliegen von harten Abreden nach Artikel 5 Absätze 3 und 4 KG, obwohl das Gesetz dort eine Vermutung zu Lasten der Unternehmen aufstellt. Eine Verschiebung der Beweislast auf die betroffenen Unternehmen ist im KG folglich nirgends vorgesehen.</p><p>Für den Nachweis von Verstössen gegen das KG gelten die gleichen Anforderungen wie allgemein im Straf- und Verwaltungsrecht: Eine Behörde darf eine Tatsache grundsätzlich nur dann als gegeben erachten, wenn sie an deren Vorhandensein keine unüberwindlichen oder - gemäss Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) - keine vernünftigen Zweifel hegt. Gemäss Rechtsprechung der Gerichte sind die Beweisanforderungen reduziert, wenn objektiv kein strikter Beweis möglich ist (etwa im Falle der Beurteilung künftiger oder alternativer Marktentwicklungen). Entgegen der in der Begründung der Motion enthaltenen Ausführungen genügen blosse "Eindrücke" jedoch unter keinen Umständen; "pauschale Verurteilungen" sind nicht zulässig.</p><p>Die genannten Grundsätze gelten auch für "Gesamtabreden". Bei diesen handelt es sich im Übrigen weder um eine Erfindung der WEKO noch um einen Import aus dem EU-Recht. Vielmehr sind auch sie nach den Regeln von Artikel 4 und 5 KG ("unzulässige Wettbewerbsabreden") zu beurteilen.</p><p>Sollte ein Entscheid der WEKO im Einzelfall tatsächlich die zuvor skizzierten Regeln verletzen, würden die Gerichte die WEKO korrigieren. Die in der Motion erwähnten krassen Verletzungen der genannten Grundsätze durch die WEKO sind in der Rechtsprechung der Gerichte nicht ersichtlich.</p><p>Im Ergebnis erfüllt somit bereits das geltende Kartellrecht die von der Motion geforderten Anforderungen an die Unschuldsvermutung. Eine Gesetzesrevision ist nicht notwendig.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion.
    • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, das Kartellgesetz so zu präzisieren, dass die verfassungsmässige Unschuldsvermutung auch dort Anwendung findet. Das hat insbesondere durch die Stärkung des Untersuchungsgrundsatzes zu erfolgen.</p>
    • Untersuchungsgrundsatz wahren. Keine Beweislastumkehr im Kartellgesetz

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