Artikel 121a der Bundesverfassung. Wie weiter mit dem toten Buchstaben der Verfassung?

ShortId
23.3434
Id
20233434
Updated
10.04.2024 15:02
Language
de
Title
Artikel 121a der Bundesverfassung. Wie weiter mit dem toten Buchstaben der Verfassung?
AdditionalIndexing
2811;44;04
1
PriorityCouncil1
Ständerat
Texts
  • <p>Der mit Annahme der Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" am 9. Februar 2014 angenommene Verfassungsartikel 121a verlangt, dass die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuert (Abs. 1) und zu diesem Zweck namentlich die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt in der Schweiz durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt (Abs. 2). Die Schweiz darf keine völkerrechtlichen Verträge abschliessen, die gegen diesen Artikel verstossen (Abs. 4). Bestehende Verträge, die Artikel 121a BV widersprechen, sind innerhalb von drei Jahren neu zu verhandeln und anzupassen (Art. 197 Ziff. 11 Abs. 1 BV). Innert der gleichen Frist ist die Ausführungsgesetzgebung in Kraft zu setzen, andernfalls der Bundesrat auf diesen Zeitpunkt hin die Ausführungsbestimmungen vorübergehend auf dem Verordnungsweg zu erlassen hätte (Art. 197 Ziff. 11 Abs. 2 BV).</p><p>Am 16. Dezember 2016 hat das Parlament das Ausführungsgesetz zu Artikel 121a BV verabschiedet; es ist am 1. Juli 2018 in Kraft getreten. Damit wurde der Gesetzgebungsprozess zur Umsetzung von Artikel 121a BV formell abgeschlossen. Der Titel dieses Ausführungsgesetzes ("Steuerung der Zuwanderung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen") darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Wesentlichen lediglich die Einführung einer Stellenmeldepflicht für Berufssparten mit erhöhter Arbeitslosigkeit erlassen wurde. Der Gesetzgeber hat sich damit für eine Regelung entschieden, die zwar mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen Schweiz-EU (FZA) vereinbar ist, dafür aber Artikel 121a BV klar verletzt.</p><p>Verfassungsmässige Gesetzgebungsaufträge sind ganz allgemein als Daueraufgabe der Legislative zu verstehen. Ist ein Anlauf gescheitert, sei es bereits in der Vernehmlassungsphase, später in der Bundesversammlung oder zuletzt aufgrund einer Referendumsabstimmung, so entbinden solche Rückschläge keineswegs, weiterhin nach einer verfassungskonformen Umsetzung zu suchen. Die längst abgelaufene Frist von drei Jahren in den Übergangsbestimmungen ändert daran nichts - im Gegenteil. Auch Verfassungsrechtler Biaggini plädiert dafür, die aktuelle, rechtlich unbefriedigende Situation zu bereinigen: "Nicht korrekt wäre es hingegen, wenn die Bundesversammlung es bei der Lösung, die aus dem jetzt laufenden Umsetzungsprozess hervorgehen wird und als provisorisch verstanden werden muss, belassen würde. Die Bundesversammlung ist vielmehr verpflichtet, ohne Verzug das in ihrer Macht Stehende zu tun, um auf die Beseitigung des (mit der Umsetzungsgesetzgebung nicht beseitigten) Widerspruchs zwischen Verfassungsvorgaben (Gebot B) und völkerrechtlichen Verpflichtungen (Gebot A) hinzuwirken". (Giovanni Biaggini, Zur Umsetzung von Artikel 121a BV durch die Bundesversammlung, ZBl 117/2016 S. 588 ff.)</p><p>Schliesslich ist nach einigen Jahren Erfahrung mit der Stellenmeldepflicht ernüchtert festzustellen, dass diese Art "Umsetzung" ohnehin untauglich ist, die Zuwanderung adäquat zu steuern, geschweige denn zu reduzieren. In einer Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO (George Sheldon/Conny Wunsch, Wirkungsevaluation der Stellenmeldepflicht II, Bern 2021) wurde die Wirkung der Stellenmeldepflicht auf die Zuwanderung empirisch untersucht. Trotz des sehr umfangreichen Datenmaterials und des Einsatzes mehrerer statistischer Verfahren konnten kein statistisch erhärteter Beweis, dass sich die Stellenmeldepflicht auf die Arbeitslosigkeit bzw. die Zuwanderungen in den meldepflichtigen Berufen ausgewirkt hat, erbracht werden. Das negative Ergebnis sei jedoch keine Folge einer etwaig mangelhaften Umsetzung der Stellenmeldepflicht. Vielmehr scheint das Grundkonzept der Stellenmeldepflicht untauglich und damit die erhoffte Wirkung auf die Zuwanderungen ganz grundsätzlich missglückt zu sein.</p><p>Aus diesen Gründen sei der Bundesrat aufgefordert, ergebnisoffen nach neuen Lösungsmöglichkeiten zu suchen und der Bundesversammlung darüber Bericht zu erstatten.</p>
  • <p>Das Parlament hat sich bei der Umsetzung von Artikel 121a der Bundesverfassung (BV, SR 101) für eine Steuerung entschieden, welche darauf abzielt, das inländische Arbeitskräftepotential besser zu nutzen. Die Stellenmeldepflicht ist eine der umgesetzten Massnahmen. Es handelt sich dabei um eine Lösung, die mit dem Freizügigkeitsabkommen (FZA, SR 0.142.112.681) vereinbar ist und eine Weiterführung des bilateralen Weges sicherstellt. Mit der Ablehnung der Begrenzungsinitiative im September 2020 hat sich die Schweizer Stimmbevölkerung deutlich für den Erhalt der Personenfreizügigkeit im Rahmen des bilateralen Wegs ausgesprochen.</p><p>In Bezug auf die Wirkung der ergriffenen Massnahmen ist der Bundesrat gestützt auf Artikel 21a Absatz 8 Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG, SR 142.20) aufgefordert, der Bundesversammlung nach Anhörung der Kantone und Sozialpartnerinnen und Sozialpartner zusätzliche Massnahmen zu unterbreiten, falls die Bestrebungen zur Förderung und Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und die Stellenmeldepflicht nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Zusätzlich beauftragt die Motion 16.4151, Monitoring über die Wirkung der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative, den Bundesrat, die Wirkung der Umsetzungsgesetzgebung von Artikel 121a BV zu beobachten und dem Parlament bei ausbleibender Wirkung weitere arbeitsmarktbezogene Massnahmen oder Abhilfemassnahmen zu unterbreiten.</p><p>Der Bundesrat hat die Ergebnisse der vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) in Auftrag gegebenen externen Evaluationen der Stellenmeldepflicht für die Einführungsphase (1. Juli 2018 bis 31. Dezember 2019) am 11. Juni 2021 zur Kenntnis genommen. Zur Beurteilung, ob die bisher ergriffenen Massnahmen in einer Gesamtsicht die Ziele der Förderung und Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials erfüllen und ob zusätzliche Massnahmen erforderlich sind, hat er gleichentags das EJPD beauftragt, in Zusammenarbeit mit dem WBF und unter Einbezug der Kantone und Sozialpartnerinnen und Sozialpartner, bis zum 31. März 2024 eine Gesamtschau vorzulegen. Das EJPD (SEM) hat die diesbezüglichen Arbeiten, in enger Zusammenarbeit mit dem WBF (SECO, SBFI), aufgenommen.</p><p>Aufgrund der laufenden Arbeiten besteht zum heutigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit, einen zusätzlichen Bericht zu erstellen.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung des Postulates.
  • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament in einem Bericht neue Lösungsansätze zur Umsetzung von Artikel 121a der Bundesverfassung aufzuzeigen.</p>
  • Artikel 121a der Bundesverfassung. Wie weiter mit dem toten Buchstaben der Verfassung?
State
Erledigt
Related Affairs
Drafts
  • Index
    0
    Texts
    • <p>Der mit Annahme der Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" am 9. Februar 2014 angenommene Verfassungsartikel 121a verlangt, dass die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuert (Abs. 1) und zu diesem Zweck namentlich die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt in der Schweiz durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt (Abs. 2). Die Schweiz darf keine völkerrechtlichen Verträge abschliessen, die gegen diesen Artikel verstossen (Abs. 4). Bestehende Verträge, die Artikel 121a BV widersprechen, sind innerhalb von drei Jahren neu zu verhandeln und anzupassen (Art. 197 Ziff. 11 Abs. 1 BV). Innert der gleichen Frist ist die Ausführungsgesetzgebung in Kraft zu setzen, andernfalls der Bundesrat auf diesen Zeitpunkt hin die Ausführungsbestimmungen vorübergehend auf dem Verordnungsweg zu erlassen hätte (Art. 197 Ziff. 11 Abs. 2 BV).</p><p>Am 16. Dezember 2016 hat das Parlament das Ausführungsgesetz zu Artikel 121a BV verabschiedet; es ist am 1. Juli 2018 in Kraft getreten. Damit wurde der Gesetzgebungsprozess zur Umsetzung von Artikel 121a BV formell abgeschlossen. Der Titel dieses Ausführungsgesetzes ("Steuerung der Zuwanderung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen") darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Wesentlichen lediglich die Einführung einer Stellenmeldepflicht für Berufssparten mit erhöhter Arbeitslosigkeit erlassen wurde. Der Gesetzgeber hat sich damit für eine Regelung entschieden, die zwar mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen Schweiz-EU (FZA) vereinbar ist, dafür aber Artikel 121a BV klar verletzt.</p><p>Verfassungsmässige Gesetzgebungsaufträge sind ganz allgemein als Daueraufgabe der Legislative zu verstehen. Ist ein Anlauf gescheitert, sei es bereits in der Vernehmlassungsphase, später in der Bundesversammlung oder zuletzt aufgrund einer Referendumsabstimmung, so entbinden solche Rückschläge keineswegs, weiterhin nach einer verfassungskonformen Umsetzung zu suchen. Die längst abgelaufene Frist von drei Jahren in den Übergangsbestimmungen ändert daran nichts - im Gegenteil. Auch Verfassungsrechtler Biaggini plädiert dafür, die aktuelle, rechtlich unbefriedigende Situation zu bereinigen: "Nicht korrekt wäre es hingegen, wenn die Bundesversammlung es bei der Lösung, die aus dem jetzt laufenden Umsetzungsprozess hervorgehen wird und als provisorisch verstanden werden muss, belassen würde. Die Bundesversammlung ist vielmehr verpflichtet, ohne Verzug das in ihrer Macht Stehende zu tun, um auf die Beseitigung des (mit der Umsetzungsgesetzgebung nicht beseitigten) Widerspruchs zwischen Verfassungsvorgaben (Gebot B) und völkerrechtlichen Verpflichtungen (Gebot A) hinzuwirken". (Giovanni Biaggini, Zur Umsetzung von Artikel 121a BV durch die Bundesversammlung, ZBl 117/2016 S. 588 ff.)</p><p>Schliesslich ist nach einigen Jahren Erfahrung mit der Stellenmeldepflicht ernüchtert festzustellen, dass diese Art "Umsetzung" ohnehin untauglich ist, die Zuwanderung adäquat zu steuern, geschweige denn zu reduzieren. In einer Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO (George Sheldon/Conny Wunsch, Wirkungsevaluation der Stellenmeldepflicht II, Bern 2021) wurde die Wirkung der Stellenmeldepflicht auf die Zuwanderung empirisch untersucht. Trotz des sehr umfangreichen Datenmaterials und des Einsatzes mehrerer statistischer Verfahren konnten kein statistisch erhärteter Beweis, dass sich die Stellenmeldepflicht auf die Arbeitslosigkeit bzw. die Zuwanderungen in den meldepflichtigen Berufen ausgewirkt hat, erbracht werden. Das negative Ergebnis sei jedoch keine Folge einer etwaig mangelhaften Umsetzung der Stellenmeldepflicht. Vielmehr scheint das Grundkonzept der Stellenmeldepflicht untauglich und damit die erhoffte Wirkung auf die Zuwanderungen ganz grundsätzlich missglückt zu sein.</p><p>Aus diesen Gründen sei der Bundesrat aufgefordert, ergebnisoffen nach neuen Lösungsmöglichkeiten zu suchen und der Bundesversammlung darüber Bericht zu erstatten.</p>
    • <p>Das Parlament hat sich bei der Umsetzung von Artikel 121a der Bundesverfassung (BV, SR 101) für eine Steuerung entschieden, welche darauf abzielt, das inländische Arbeitskräftepotential besser zu nutzen. Die Stellenmeldepflicht ist eine der umgesetzten Massnahmen. Es handelt sich dabei um eine Lösung, die mit dem Freizügigkeitsabkommen (FZA, SR 0.142.112.681) vereinbar ist und eine Weiterführung des bilateralen Weges sicherstellt. Mit der Ablehnung der Begrenzungsinitiative im September 2020 hat sich die Schweizer Stimmbevölkerung deutlich für den Erhalt der Personenfreizügigkeit im Rahmen des bilateralen Wegs ausgesprochen.</p><p>In Bezug auf die Wirkung der ergriffenen Massnahmen ist der Bundesrat gestützt auf Artikel 21a Absatz 8 Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG, SR 142.20) aufgefordert, der Bundesversammlung nach Anhörung der Kantone und Sozialpartnerinnen und Sozialpartner zusätzliche Massnahmen zu unterbreiten, falls die Bestrebungen zur Förderung und Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und die Stellenmeldepflicht nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Zusätzlich beauftragt die Motion 16.4151, Monitoring über die Wirkung der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative, den Bundesrat, die Wirkung der Umsetzungsgesetzgebung von Artikel 121a BV zu beobachten und dem Parlament bei ausbleibender Wirkung weitere arbeitsmarktbezogene Massnahmen oder Abhilfemassnahmen zu unterbreiten.</p><p>Der Bundesrat hat die Ergebnisse der vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) in Auftrag gegebenen externen Evaluationen der Stellenmeldepflicht für die Einführungsphase (1. Juli 2018 bis 31. Dezember 2019) am 11. Juni 2021 zur Kenntnis genommen. Zur Beurteilung, ob die bisher ergriffenen Massnahmen in einer Gesamtsicht die Ziele der Förderung und Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials erfüllen und ob zusätzliche Massnahmen erforderlich sind, hat er gleichentags das EJPD beauftragt, in Zusammenarbeit mit dem WBF und unter Einbezug der Kantone und Sozialpartnerinnen und Sozialpartner, bis zum 31. März 2024 eine Gesamtschau vorzulegen. Das EJPD (SEM) hat die diesbezüglichen Arbeiten, in enger Zusammenarbeit mit dem WBF (SECO, SBFI), aufgenommen.</p><p>Aufgrund der laufenden Arbeiten besteht zum heutigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit, einen zusätzlichen Bericht zu erstellen.</p> Der Bundesrat beantragt die Ablehnung des Postulates.
    • <p>Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament in einem Bericht neue Lösungsansätze zur Umsetzung von Artikel 121a der Bundesverfassung aufzuzeigen.</p>
    • Artikel 121a der Bundesverfassung. Wie weiter mit dem toten Buchstaben der Verfassung?

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